Schmerzspuren
den Wänden. Das coole von Jürgen Klinsmann. Da war ich immer scharf drauf. Am liebsten würde ich die Tür aufbrechen. Oder die Scheibe einschlagen. In Filmen wickeln sich die Typen dazu eine Jacke um den Arm. Ich hab keine Jacke dabei.
Meine Mutter guckt mich besorgt und böse gleichzeitig an. Das kann sie gut.
»Wo warst du?«
Natürlich hat Johannas Mutter angerufen, um meinen vorzeitigen Abgang zu petzen.
»Ich hatte plötzlich so Bauchkrämpfe.«
»Und warum bist du dann nicht sofort gekommen? Johannas Mutter hat vor fast zwei Stunden angerufen.«
»Weil ich die ganze Strecke laufen musste. Zu Fuß. Bei dem Board hat sich eine Rolle verzogen. Das kann man nicht mehr lenken. Und Geld für den Bus hatte ich nicht.«
Jetzt guckt sie nur noch besorgt. Das mit dem Board ist natürlich totaler Quatsch. Rollen können sich nicht verziehen. Aber bei meiner Mutter verziehen sich alle Gedanken daran, ich hätte mich rumgetrieben. Ich schiebe mich an ihr vorbei, geh aufs Klo und lass mal wieder die Spülung rotieren. Heute habe ich den Wasserverbrauch in Frankfurt echt nach oben getrieben. Die Strafe folgt am nächsten Morgen in Form von Dinkelstangen und Zwieback. Die Dinkelstangen sind natürlich ungesalzen, ungewürzt und ungenießbar. Das Ganze stellt meinen Pausensnack dar. Im Gegenzug bekomme ich eine Entschuldigung für die letzten beiden Stunden. Sport. Ich mache meiner Mutter
klar, dass es mir so weit ganz gut gehe. Nur wenn ich laufen oder hüpfen müsse, könne ich für nichts garantieren. Das sieht sie ein.
Ich gebe den Entschuldigungszettel ab, schiebe ein bestimmtes »Ich soll dafür sofort in die Betreuung gehen« hinterher und bin weg. Damit erst gar keine Zweifel aufkommen und ich eine Doppelstunde auf einer blöden Holzbank hocken muss, um andern beim Schwitzen zuzugucken. Ich nehme den direkten Weg zum Containerhafen. Zu den Hallen. In meiner Tasche ist eine dicke Jacke. Ein uralter Anorak von mir. Ich wickle ihn so fest es geht um meinen rechten Arm und schlage zu. Blöderweise hab ich vergessen, meine Hand mit einzupacken. Saudoof. Es klirrt viel lauter, als ich dachte. Ich erschrecke total. Wegen des Schepperns und der vielen kleinen Risse auf meinen Fingern. Auf dem Handrücken klafft ein Loch. Im Mittelfinger steckt noch ein fetter Splitter. Ich hocke mich hinter eine Mülltonne, zieh ihn raus, lutsche am Blut und warte. Warte, dass irgendjemand kommt. Im schlimmsten Fall irgendein Wachhund. Fehlanzeige. Nach ein paar Minuten gucke ich mir die kaputte Fensterscheibe näher an. Eigentlich ist nur ein kleines Loch in der Mitte und ich muss erst noch das ganze Glas drum rum raushauen. Dafür nehme ich die linke Hand plus Jacke.
Endlich bin ich drin. Der Boden summt, als würde er mein Board wiedererkennen. Es ist total irreal. Der Schmerz in meiner Hand ist total real. So ein bisschen wie »Kneif mich mal«. Ich nehme den Parcours und meine Laune steigt mit jeder Kurve. Der Treppensprung klappt
fast auf Anhieb. Ich überlege, welchen Stunt ich mit der langen Kette wagen könnte, die von der Decke baumelt. Ich fliege über den schmutzigen Boden. Die Zeit verfliegt auch. Ich habe sogar eine große Plastiktüte mitgebracht, die ich zum Schluss vor das leere Fensterloch klebe. Ich will nicht, dass mein geheimer Zugang gleich wieder auffliegt.
Am Abend erscheint mir das wie ein Traum. Als wäre ich gar nicht wirklich in der Halle gewesen. Die feinen Schnitte auf meinen Fingern wirken gemalt. Ich habe mir einen Pulli angezogen, den meine Ma mal gestrickt hat. In der ersten Woche fand ich den super. Danach ist er fast täglich gewachsen. Er wurde immer länger und länger. Und das, obwohl ich ja auch wachse. Er geht mir schon weit über den Arsch. Praktischerweise sind auch die Ärmel gewachsen. Unter dem Bündchen ragen gerade mal meine Fingerspitzen raus und die sind nicht zerschnitten. Ich muss nur darauf verzichten, nach den Chips zu greifen, die meine Mutter zwischen uns auf die Couch gestellt hat. Der Krimi ist eigentlich ganz gut. Die Serie ist cool. Meine Ma und ich gucken sie jede Woche. Sie ist echt clever. Die Lösung kann noch so abwegig sein, meine Mutter ahnt meist schon vorher, wer der Täter ist. Meine Gedanken gucken immer wieder zurück. Ein paar Stunden zurück. Immer wieder höre ich das Klirren, sehe die Schnitte erst, ehe ich sie spüre. Ich bin ja selber ganz irritiert. So was habe ich noch nie gemacht. Bei Rot über die Ampel gehen war bis jetzt so ziemlich der
Weitere Kostenlose Bücher