Schmerzspuren
kriminellste Akt meines Lebens. Ich bin noch nicht mal schwarz Bus gefahren. Was, wenn mich
jemand beobachtet hat? Und mir vielleicht gefolgt ist? Mir wird ein bisschen schlecht. Wie nennt man so was wohl? Sachbeschädigung? Hausfriedensbruch? Ich könnte erzählen, dass ich durchs Fenster eine verletzte Katze in der Halle gesehen und sie gerettet habe. Am besten eine verletzte und fast verdurstete Katze. Wie zeigt wohl eine Katze, dass sie Durst hat? Meine linke Hand tastet unter das Bündchen. Wenn ich die Haut an den Schnitten auseinanderziehe, wird es besser. Die Kruste löst sich. Es sticht. Sie bricht, birst. Es schmerzt. Ich stehe auf.
»Ich geh schlafen.«
»Jetzt?«
Der Mund meiner Mutter steht offen. Mit eingespeichelten Chips drin. Nicht schön.
»Ja. Ich bin müde.«
»Fünf Minuten vor dem Ende?«
»Du kannst mir ja morgen erzählen, wer es war.«
»Der Bruder. Gute Nacht.«
Im Internet google ich unter Katze und halb verdurstet und kriege nur Mist-Seiten. Philipp wüsste jetzt Rat. Der würde kurz überlegen und hätte dann eine 1a-Erklärung. So eine, für die er noch ein Schulterklopfen kassiert, keinen Einlauf. Vielleicht sollte ich Philipp doch mal schreiben. Ich krame einen Block raus.
»Hallo Philipp. Ich bin heute Nachmittag in eine alte Halle eingebrochen, habe die Scheibe mit der Hand zertrümmert, hatte aber eine Jacke um den Arm gewickelt. Jetzt hab ich Schiss, dass ich beobachtet wurde. Brauche dringend eine gute Erklärung. Tschüs Ben.«
Ich grinse. Das kann ich natürlich nicht schreiben. Philipp ist ein Schussel. Der lässt den Brief garantiert irgendwo offen liegen. Wahrscheinlich direkt auf dem Küchentisch. Dann kann ich den Brief gleich an Philipps Mutter adressieren. Vielleicht sollte ich Philipp einfach so schreiben. In der Schublade liegen immer noch die Fotos von meinem Geburtstag. Ich fange noch mal an. Die erste Version habe ich auf Konfettigröße zerrissen.
»Hallo, Philipp.«
Als ich irgendwann weiterschreiben will, ist der Filzstift eingetrocknet. Als ich einen neuen gefunden habe, habe ich schon wieder vergessen, was ich schreiben wollte. Irgendwann steht meine Mutter in der Tür.
»Du wolltest doch längst schlafen.«
»Ich dachte, ich schreibe noch eben Philipp.«
»Schön. Was schreibst du denn?«
»Hallo.«
»Vielleicht schaffst du ja noch ein bisschen mehr. Gute Nacht.«
Ich schaffe nicht mehr. Was soll ich denn schreiben? Mir geht es gut? Wie geht es dir? Das wäre außerdem gelogen. Soll ich ihn fragen, wie das Wetter in Köln ist? Ob er gar schon FC-Fan ist? Irgendwann gebe ich auf und verziehe mich unter die Decke.
Ich schaffe es einfach nicht. Um die Kruste abzuknibbeln, bräuchte ich einen Rest Fingernagel. Sie ist eigentlich dick und wulstig. Aber ohne Nagel geht nichts. Ich werde völlig hektisch. Kann nicht loslassen. Mit der Nagelschere klappt es. Die Kruste löst sich schreiend, widerstrebend. Ich fühle mich, als hätte ich mir einen runtergeholt.
Die Probe ist eine einzige Katastrophe. Wir haben alle schlechte Laune. Bennys Text ist ein Gewürge, was ich auch sage. Ich werde angemotzt, weil ich immer noch keinen Sänger aufgetan hab. Noch nicht mal versucht hätte ich es. Dann knallt bei Toms Verstärker irgendwas durch. Als ich hoch in mein Zimmer gehe und den Zettel mit dem schleimigen »Hallo Philipp« sehe, knallt bei mir irgendwas durch. Ich geh in die Garage, hol aus der Werkzeugkiste meines Vaters ein Teppichmesser und nehm auf der Treppe zwei Stufen auf einmal, um wieder in mein Zimmer zu kommen. Ich reiße das Foto von der Pinnwand und zerschneide es fein säuberlich von oben links nach unten rechts. Einmal quer durch Philipps Gesicht. So!
Auf dem Foto saßen wir vor unserem Zelt. Das war an den großen Seen zwei Stunden von hier in den Bergen. Drei Wochen haben wir da gezeltet, und es war mit Abstand der geilste Urlaub, den ich je hatte. Tausendmal besser als Korsika, Teneriffa und Elba die Jahre vorher. Meine Eltern stellten ihr Wohnmobil neben ein paar andere unter die Bäume und Philipp, ich und noch ein paar Jungs durften mit den Zelten unten auf die Wiese. Wir haben ein Wasserballturnier gemacht und Philipp und ich haben sogar ein Floß gebaut. Das war vielleicht nicht viel mehr als eine Holz-Luftmatratze. Aber sie schwamm! Abends haben wir oft am Lagerfeuer gesessen. Nachts haben Philipp und ich noch ewig lange Musik gehört. Oder einfach nur gequatscht oder Luftgitarre gespielt, bis uns die Arme abfielen. Ein
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