Schmerzverliebt
trinken, Thomas.«
»Setz dich, Pia! Und trink einen Schluck Saft.«
»Ich will jetzt nichts.«
»Doch, komm«, mein Vater drückt mich behutsam auf einen Küchenstuhl. »Ich werde mit Benne gleich ein ernstes Wörtchen reden, das ist kein Thema für die Öffentlichkeit.«
»Uns allen sind die Nerven durchgegangen«, stammelt meine Mutter. »Es ist furchtbar, wenn der eigenen Tochter so was angetan wird.«
»Mama!« Ich hole tief Luft. »Zum letzten Mal: Sebastian hat mir nie etwas getan. Im Gegenteil. Er hat versucht, mir zu helfen.«
»Das weiß ich doch, mein Mädchen.«
»Nein, du weißt es nicht. Keiner hat mir was getan. Es gibt keine fiesen Jungs in meiner Klasse, die hab ich nur erfunden, weil die Friseurin mich so genervt hat. Und es gibt auch keinen Spanner, den haben Conny und ihre Schwester erfunden, weil sie … was weiß ich, weil sie doof sind und Langeweile hatten.«
»Nicht weinen, Püppi!«
»Mama, lass mich.« Ich schüttele ihre Hand ab, mache eine Pause, sammele Kraft für den schwersten Moment. »Die Wahrheit ist nämlich«, ich stocke, »die Wahrheit ist, dass ich mich manchmal fühle, als säße ich in einem Zug, der langsam anfährt. Und auf der anderen Seite des Bahnsteigs steht auch ein Zug, der ebenfalls langsam anfährt, nur in die andere Richtung. Dann hat man für einen Moment das Gefühl, die Orientierung zu verlieren. Man weiß nicht: Steht man, fährt man, bewegt man sich vor oder zurück, oder passiert vielleicht alles gleichzeitig, und man wird ganz sanft innen auseinander gerissen.«
Mein Vater schließt die Augen, legt erschrocken die Hand vor den Mund. »Ich hab’s geahnt«, murmelt er.
»Was denn?« Meiner Mutter steht der Mund offen, Tränen glänzen in ihren Augen.
»Du hast es selbst gemacht.«
»Ja.«
»Was?« Der Blick meiner Mutter jagt zwischen mir und meinem Vater hin und her.
»Ja, ich war es selbst. Ich mache es öfter, immer dann, wenn’s mir schlecht geht und wenn ich glaube, dass ich alles nicht mehr ertragen kann. Mal nehme ich eine Rasierklinge, mal eine Glasscherbe, mal eine Fleischgabel.«
Ich atme aus, erhebe mich vom Stuhl. Meine Mutter starrt mich an, ungläubig, als hätte ich Worte in einer fremden Sprache gesprochen, die sie nicht übersetzen kann.
Ich will nicht warten, bis sie endlich doch versteht, bis sie vielleicht anfängt zu schreien. Ich dränge mich an ihr vorbei, flüchte durch das Wohnzimmer zur Terrassentür hinaus, quer durch den Garten, durchs Tor, zwischen den Bäumen hindurch, hinaus aufs Feld.
28 Sebastian
»Wir müssen sie finden!« Sebastian keucht, Benne holt ihn ein, bleibt vor dem Kornfeld stehen.
»Kramer, da haben wir keine Chance. Sie braucht sich nur zu ducken, dann ist sie nicht mehr zu sehen. Oh Mann, bin ich bescheuert! Wie konnte ich nur auf diese hirnrissige Idee kommen?« Er packt Sebastian an der Schulter. »Aber was sollte ich denn machen? Auf so was Krankes wie das, was Pia macht, kommt doch kein Mensch!«
»Aber auf die Idee, dass ich ihr was getan hätte, darauf kommt man leicht, was?«
Benne schweigt.
In dem Moment kommen Pias Vater und sein Kollege Michael Mallwitz dazu.
»Habt ihr sie gesehen?«
»Sie ist ins Feld!« Benne streckt den Arm aus, lässt ihn dann schlapp am Körper herunterfallen.
»Benedikt, du gehst nach Hause«, bestimmt Pias Vater. »Kümmere dich um die Gäste, versuch die Wogen zu glätten, mach irgendwas! Sebastian, Michael und ich werden versuchen, sie zu finden, bevor …« Er spricht den Satz nicht zu Ende. »Und wenn sie nach Hause kommen sollte, lass sie bloß nicht wieder weg!«
Benne trollt sich.
»Hast du eine Ahnung, wohin sie gehen könnte?«, wird Sebastian von Herrn Mallwitz gefragt.
»Vielleicht zum alten Bahnhof. Man kann in die Schalterhalle hinein. Dort ist es trocken und einigermaßen gemütlich. Pia hat sich da einen Tanzraum eingerichtet.«
»Das hat sie uns nie gesagt!«, entfährt es Pias Vater.
»Sie hat noch einen zweiten Lieblingsplatz«, fügt Sebastian zögerlich hinzu. »Der ist nicht überdacht. Kann aber sein, dass sie trotzdem da ist. Es ist so was wie unser gemeinsamer Platz. Dahin gehe ich am besten allein.«
»Gut!« Herr Mallwitz wirft einen Blick auf seine Uhr. »Du meldest dich, sobald du sie gefunden hast. Hier, nimm mein Handy, es ist eingeschaltet. Wenn wir sie an diesen beiden Orten nicht finden sollten, schalten wir die Polizei ein.«
Sebastian hat es auf einmal eilig wegzukommen. Wenn Pia so verzweifelt und ihre Familie
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