Schmerzverliebt
der Rückfahrt spricht mein Vater zunächst kein Wort mit mir, er grübelt wohl über die unausgesprochenen Zweifel des Arztes nach, denn als wir vor unserem Haus halten und ich aussteigen will, legt er plötzlich seine Hand auf meinen Verband. »Warte mal.« Er räuspert sich, sucht nach Worten.
Ich starre seine Hand an. Dort, wo der Ehering am Finger sitzt, sind kleine Fleischwülste entstanden und auf einem Fingernagel sieht man noch die schwarze Blutblase, die sich gebildet hat, als er vor kurzem den Apfelbaum beschnitten hat und ihm ein Ast auf die Hand gefallen ist.
»Pia, sollen wir mal in Ruhe miteinander reden?«
Ich genieße es, meinen richtigen Namen aus seinem Mund zu hören, und während ich weiter seine Hand ansehe, fallen mir all die Augenblicke mit ihm ein, seine Hände, die mir Schwung auf der Schaukel gaben, die mich aus den Ästen der Bäume hoben und aus den Nordseewellen zogen, seine Hände, die immer warm sind und nie eisig wie meine, die mein Himmelbett gebaut und mit mir Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt haben.
Fast bin ich so weit. Doch dann fallen mir Sebastians letzte Worte ein, der Blick des Arztes, und meine Angst wird übermächtig.
»Worüber?«, sage ich, steige rasch aus und bin erleichtert, als er mich daraufhin in Ruhe lässt.
Später bringt meine Mutter mir zum ersten Mal seit langer Zeit wieder heißen Kakao ans Bett.
»Na?«, fragt sie, öffnet die Tür zu meinem Zimmer gerade einen Spalt, so dass sie hindurchgehen kann, betrachtet mich besorgt und hockt sich auf die Bettkante. »Ich darf doch?«, sagt sie dabei, so, als sei ich vielleicht eine Bewohnerin ihres Altenheims, die sie am Krankenbett besuchen muss und zu der sie eigentlich keine richtige Beziehung hat. »Magst du?« Sie hält mir die Tasse hin und ich nehme sie vorsichtig in die unverletzte Hand.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich wünschte, nicht meine Hand, sondern mein Hals wäre verletzt und es könnte niemand von mir erwarten, dass ich auch nur ein einziges Wort über die Lippen bringe.
»Ach, Püppi, es tut mir sehr Leid, dass du vorhin so zwischen die Fronten geraten bist. Benne ist selbst auch ganz unglücklich darüber, dass er Sebastian geschlagen hat. Aber es ist nun mal passiert. Und was sollten dein Vater und ich denn machen? Wir mussten unseren Sohn doch in Schutz nehmen! Auch wenn wir wissen, dass er im Unrecht war, wir konnten uns doch nicht gegen ihn stellen. Das würden wir bei dir auch nicht tun!«
Ich nicke stumm.
»Mein liebes Häschen! Du hast wunderschön getanzt heute Nachmittag, du warst die Beste, jedenfalls für deinen Vater und mich. Ich meine, du solltest dir das mit dem Musikunterricht noch mal überlegen. Du hast Talent. Und wenn dir Akkordeon gar nicht liegt, vielleicht könnten wir in absehbarer Zeit doch ein Klavier anschaffen.«
»Ja …?« Damit ich nicht gleich weinen muss, nippe ich hastig an meinem Kakao, verschlucke mich, huste.
»Das müsste ich natürlich erst noch mit deinem Vater besprechen, aber ich glaube nicht, dass er viel dagegen hat. Er macht sich große Sorgen um dich, er war ganz durcheinander, als er mit dir aus dem Krankenhaus zurückkam. Du sollst wissen, dass wir dich lieben und alles für dich tun würden!«
Ich nicke wieder, den Kakaobecher immer noch eng an das Gesicht gepresst.
»Schmeckt er dir?« Meine Mutter seufzt. »Weißt du noch, wie viel Kakao ich dir früher immer kochen musste: literweise. Milch pur hast du nie getrunken, es musste immer Kakao sein. Du warst damals schon eine ganz Süße, genauso süß wie heute auch.«
Die ersten Tränen fließen jetzt, und es nützt nichts mehr, sie verstecken zu wollen, denn meine Mutter hat sie längst bemerkt, sie gibt ihre Distanz auf, rückt näher, streicht wieder und wieder durch mein Haar, murmelt tröstende Worte, und obwohl ich will, dass sie endlich geht, will ich auch, dass sie dableibt.
Am Samstagmorgen fühle ich mich, als wäre nicht nur die linke Hand, sondern mein ganzer Körper taub und einbandagiert, zumindest pocht es in meinem Kopf genauso wie in meiner Hand. Erst nach zwei Aspirin fühle ich mich langsam besser, stehe auf und schleiche im Schlafanzug durch die Wohnung, um Conny und meinem Bruder beim Herrichten und Schmücken des Partykellers zu helfen.
Wir hängen gerade eine Girlande auf, als meine Eltern in den Keller gepoltert kommen.
»Püppi!«, höre ich die aufgeregte Stimme meiner Mutter schon auf der Treppe und springe eilig vom Stuhl, auf den ich gestiegen
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