Schnappschuss
Challis unterbrach ihn. »Hat doch keinen Sinn, zwei von uns damit zu behelligen, Scobie.«
Sutton nickte erleichtert. »Ich muss ihre Mutter benachrichtigen«, sagte er und trottete in Richtung der Ansammlung von privaten und offiziellen Fahrzeugen, die am Straßenrand standen.
»Ich habe seine Taschen noch nicht durchsucht, ob ich etwas finde, das ihn identifizieren könnte«, sagte Freya, tat einen Schritt beiseite und zog ihre Handschuhe aus.
»Das mache ich«, meinte Ellen.
Sie kauerte sich über die Leiche, tastete die Taschen ab, suchte an Händen und Handgelenken nach Ringen oder Armbanduhr. »Nichts«, stellte sie abschließend fest, doch dann stand sie auf, und eine merkwürdige Erregung hatte sie erfasst. »Bis auf eine Ausnahme.«
»Bis auf den fehlenden Finger«, meinte Freya trocken.
Challis kribbelte es. Plötzlich fühlte er sich ganz lebendig, und er beugte sich vor und sah selbst nach. Der Ringfinger der rechten Hand. »Füchse, Doktor?«
Freya Berg schüttelte den Kopf. »Der Finger ist schon vor Jahren abgerissen worden, nicht erst vor Wochen oder Monaten.«
59
Am Montag fuhr Challis in die Stadt und traf gegen ein Uhr am Institut ein. Ein eisiger Wind zog von der Bucht herein, und Challis hatte das Gefühl, als begleite die Brise ihn bis in das Anatomische Kabinett des Institutes, ein kleines verglastes Zimmer, von dem aus man ein riesiges Labor überblicken konnte. In dem Untersuchungslabor gab es acht einzelne Sektionen. Hier wurden alle Arten meldepflichtiger Tode untersucht: Selbstmorde, Unfälle, Drogentote und Morde. Natürliches Licht flutete durch die Oberfenster hoch über den Seziertischen herein und vermittelte einen falschen Eindruck von Wärme.
Freya und die anderen Experten des Institutes arbeiteten in blauer Krankenhauskleidung, in grünen Chirurgenkitteln, weißen Gummistiefeln und Einmalschürzen. Sie arbeiteten gut gelaunt und effektiv. Sie waren Witzbolde, wie Polizisten und Rettungssanitäter, nur dass der Humor bei ihnen längst nicht so schwarz war und weniger dem Selbstschutz diente – wahrscheinlich weil sie den ganzen Tag mit Leichen zu tun haben, dachte Challis, wenn auch in allen möglichen extremen Formen. Selbst die Detectives der Mordkommission hatten selten mit Leichen zu tun. Er schaute zu, wie dem Toten aus dem Naturschutzgebiet die Kleidung vom Körper geschnitten wurde, wie die Leiche mit einem Schwamm von allem Pflanzenmaterial befreit wurde, wie sie die Kopfhaut abhoben, um mit der Knochensäge besser arbeiten zu können, und wie der Brustraum mit einem Y-förmigen Schnitt geöffnet wurde. Die Organe wurden entfernt und gewogen; die Kleidung durchsucht. Ein Molekularbiologe nahm DNS-Proben. Ein Toxikologe bemühte sich, brauchbares Lebergewebe zu finden, Augenflüssigkeit, Galle-, Blut- und Urinproben. Schließlich nahmen sie einen Zahnabdruck, der bei der Identifizierung des toten Mannes helfen sollte, dann wurde der Bauchraum wieder gefüllt und wurden die verschiedenen Einschnitte mit festem Faden und einer gebogenen Nadel wieder zugenäht.
Dann waren noch alle möglichen Formulare auszufüllen, und Freya führte Challis in ihr Büro, wo sie sich mit ihm unterhielt, während sie ankreuzte, kritzelte und unterschrieb. Er hatte schon viele Male so bei ihr gesessen. Nicht dass er ihre Arbeit makaber fand oder ihn ihre angenehme, coole Professionalität irritierte, dennoch freute er sich jedesmal, wenn er die kleinen Eitelkeiten in ihrem Leben bemerkte wie ihre baumelnden Ohrringe und den wunderschönen Montblanc-Füller.
»Gibt es denn dafür immer noch Tinte?«
»Oh ja.«
Schließlich schraubte sie den Füller zu und lehnte sich in ihrem Sessel zurück.
»Geschafft. Bis die Testergebnisse zurück sind, kann ich über den Zeitpunkt des Todes nichts Definitives sagen. Unser Mann hatte noch all seine Zähne – mit einer Ausnahme. Dem Schaden am Gaumen nach zu urteilen, ist der ihm wahrscheinlich ausgeschlagen worden –, was darauf hinweist, dass er noch ziemlich jung ist, nicht mittleren Alters. Eine Querschnittanalyse der Zähne dürfte uns sein Alter auf ein Jahr genau verraten. Außerdem sind seine Schädelknochen noch nicht vollständig miteinander verwachsen, ein weiterer Hinweis darauf, dass er noch jung ist, kein Teenager, eher Anfang zwanzig. Wegen der Knorpelkontraktion und der einsetzenden Verwesung der Fußsohlen kann ich seine Größe nicht genau bestimmen, doch er ist durchschnittlich groß, etwa eins achtzig. Das Fehlen
Weitere Kostenlose Bücher