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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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gibt, oder ein Periskop auf dem Dach, wie bei einem U-Boot. Jeder, der etwas entdeckt, muß es allen mitteilen, das geht nur mit Schreien. Dann wird es ruhiger, und wir gucken aus den Fenstern, ob da vielleicht jemand was dagegen hat? «Watt dajejen?» Das ist jetzt unsere Festung, da können die aus den anderen Bungalows ruhig kommen, schade eigentlich, daß sie es nicht tun. Wir müßten eine Wache aufstellen, man weiß ja nie, was die anderen vorhaben. Ich fühle mich stark in der Gruppe, voller Trotz gegen eine unbekannte Macht. Man will irgendetwas packen, in die Höhe reißen und über dem Kopf schwenken. Hier in diesem feuchten Tal sind wir vielleicht sogar vor Atombomben sicher. Ich glaube nämlich nicht, daß es wirklich hilft,sich mit einer Zeitung auf dem Kopf, die Füße zum Atompilz, auf den Boden zu legen. Aber ob es überhaupt gut wäre, den Krieg zu überleben? Dann wäre ja alles verseucht und verbrannt, und die Neugeborenen hätten zugewachsene Augen.
    Ich darf nicht daran denken, was nach dem Sommer kommt, die neue Schule, acht Stunden Mathe in der Woche, «diophantische Gleichungen». Ich hatte die Aufnahmeprüfung eigentlich gar nicht bestehen wollen, aber dann hatte es mich doch gereizt, weil es an der Schule ein Computerkabinett gibt. Deshalb habe ich bei «Berufswunsch» nicht die Wahrheit geschrieben, nämlich «zur Rocksteady Crew gehören», sondern «Medizinische Kybernetik». Außerdem geht einer meiner Brüder schon an die Schule. Ich habe gemerkt, was für eine ungeheure Wirkung es hat, wenn man sagt, daß man dort aufgenommen wurde, man wird dann angesehen, als sei man irgendwie auf eine positive Art behindert. Der Direktor sagte, wir seien freiwillig hier und müßten dieses Privileg in Leistung zurückzahlen. Man werde am Ende jedes Schuljahres noch einmal prüfen, wer den Anforderungen entsprochen habe und wer nicht, und gegebenenfalls aussortieren. Meine Eltern sind aber sehr dafür, daß ich es versuche, sie sagen, einen Mathematiker könne man nicht zwingen, seine Forschungsergebnisse dem Marxismus-Leninismus anzupassen, die Zahlen seien ja, wie sie sind. Ich würde später von der Partei in Ruhe gelassen. Außerdem muß man während der Arbeit nur nachdenken.
    Im Lauf der Schulzeit ist die Schrift in den Schulbüchern immer kleiner geworden, und die Bilder seltener, sie haben auch die Farbe verloren. Später wird es gar keine Bildermehr geben, und die Schrift wird nach und nach durch Formeln ersetzt. Ich kenne das schon von den Heftern meiner Geschwister, die mir seit der ersten Klasse Angst machen, teilweise standen da nur noch Zahlen und der Buchstabe «X». Man rechnete nicht mehr plus, minus usw., sondern «hoch». Es ist etwas, was ich überall beobachte, das Leben wird immer schwieriger und anstrengender. Man muß nur einmal meine Puzzles mit denen vergleichen, die meine Mutter abends macht, das sind viel mehr Teile, und manchmal bestehen die Bilder fast nur aus Himmel. Es kommt aber noch schlimmer: Die meisten Gesellschaftsspiele sind ja nur von 9–99 Jahren, danach darf man gar nicht mehr mitspielen.
    Vier Jahre an der neuen Schule, und danach kommt die Armee. Und wenn man die überlebt hat, ohne von den anderen mit Zigarettenqualm im Spind erstickt worden zu sein, muß man studieren. Irgendwie wird sich bis dahin herausstellen, wofür ich mich interessiere, bis jetzt ja eigentlich nur für Fernsehen und Geschenke auspacken. Klavierstimmer wäre vielleicht ein guter Beruf, aber dafür muß man blind sein. Wo werde ich später arbeiten? In einem «Betrieb»? Jeden Morgen am Fabriktor eine Desinfektions-Lauge durchwaten? Betriebe liegen immer hinter hohen Mauern, und von drinnen hört man eine einsame Kreissäge und das Fluchen eines Mannes, der gerade über ein herumliegendes Metallteil gestolpert ist. Bis zur Rente wird im Leben alles immer schlimmer. Zum Glück kann ich zur Not in den Westen gehen. Wie in manchen Filmen, wenn ein Angestellter die Tür knallt: «Ich kündige!» Das muß so ein schönes Gefühl sein. «Da bist du ja endlich», würden unsere Verwandten in Rendsburg sagen. Schade, daß sie nicht in Ravensburg leben.

4 Eike sitzt plötzlich nackt auf dem Fensterbrett, zweifellos eine Attraktion, alle kommen mal gucken. Er demonstriert, wie egal es ihm ist, daß er nackt ist. Die Mädchen sind entsetzt, manche trauen sich gar nicht richtig heran, sind aber auch zu fasziniert, um sich abzuwenden. Zur Abrundung der Aufführung pinkelt er aus dem Fenster,

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