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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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immer gut, wenn mal ein Schal vergessen worden ist, den kann man dann zur Demonstration benutzen, wie sich das Gestein zusammenschiebt und Spitzen hervorgedrückt werden, die dann abknicken. Irgendwie jaauch logisch, daß Italien gegen Europa geprallt ist, das war eigentlich vorauszusehen gewesen, daß dabei die Alpen entstehen würden. Und daß Südamerika sich ursprünglich einmal so bohnenförmig an Afrika angeschmiegt hat, wie die BRD an die DDR, leuchtet einem als erfahrenem Puzzler ein, da paßt kein Haar dazwischen. Auf unserer alten Weltkarte im kleinen Zimmer, die ich, wenn ich krank bin, den Tag über anstarre, sieht Afrika wie ein Mann mit Strohhut aus, der Victoria-See als Auge.
    Als der Lehrer die USA mit Florida anzeichnet, bekommt Roberto sich nicht mehr ein, weil der Zipfel aussieht, wie ein «Ding». Da guckt der Lehrer genervt, das habe er kommen sehen, daß das wieder Gegacker gebe, «von einigen Spezialisten». Auch sehr heikel: «Finnischer Meerbusen» und «Spitzbergen», da ist die Stunde eigentlich schon gelaufen, wenn ausgerechnet Irina das auf der Karte zeigen soll.
    Ich würde sehr gerne einmal fliegen, weil man dann einen Bonbon bekommt und durchsichtiges Plastebesteck, mit den Messern kann man sogar schneiden. Vom Rückflug aus Budapest hat mir Roberto einmal eine Kotztüte mitgebracht, die hat man natürlich, wenn man sie braucht, nie dabei. So ist das auch mit dem Lageplan vom Tierpark, den man jedes Mal neu kaufen muß, weil man ihn zuhause nicht mehr findet, und bei gutem Wetter die bunten Sonnenschirme mit der Gummistrippe und den aufgedruckten Indianerhäuptlingen. «Geron
i
mo» habe ich immer gelesen, bis es in einem Film einmal «Dschie
ro
nnimo» ausgesprochen wurde. Ein Pfauenauge findet man nur ganz selten.

5 Wir schlurfen widerstrebend zum Appellplatz, das Pioniertuch nur über die Schulter geworfen und ohne den speziellen Knoten. Eike setzt sich hinter uns auf die Wiese und ist kaum zu bewegen, sich für die paar Minuten hinzustellen. Das traurige Mädchen mit den langen, schwarzen Haaren wächst zu schnell und hat deshalb eine Appell-Befreiung, weil sie vom Stehen immer in Ohnmacht fällt. Wulf zählt durch, offenbar fehlt noch jemand. «Peggy», sagen die Mädchen, in einem Ton, als würden sie sie und ihre Unzuverlässigkeit schon seit Jahren kennen, aber gelernt haben, damit zu leben. Ich kann die Mädchen noch nicht auseinanderhalten. Einer fehlt ein halber Schneidezahn, die ist die Anführerin, das spürt man gleich. Manche haben sich schon das erste Mal umgezogen und die Haare eingesprayt.
    Die Lagerleiterin sagt, daß sie Rita heiße und wie alle Erwachsenen hier für uns ihren Urlaub opfere. Daß wir dankbar sein sollten, hier unsere Ferien verbringen zu dürfen, weil die Werktätigen das mit ihrer Arbeit ermöglichen, entsprechend sollten wir für Ordnung und Sauberkeit sorgen. Es habe niemand etwas gegen einen Spaß, solange er niveauvoll sei. «Seid bereit», «Immer bereit», murmeln wir lustlos. An der Schule haben wir einen Schüler aus der neunten Klasse, der Trompete spielen kann und das bei jedem Appell demonstrieren muß. Wir nennen ihn den «kleinen Trompeter» und freuen uns immer, weil er von der Anstrengung rote Flecken im Gesicht bekommt. Er verspielt sich jedes Mal, und manchmal gerät er sogar so aus dem Konzept, daß er kämpft, als würde er einen Luftballon aufblasen, ohne dabei einen Ton zu erzeugen, das ist dann am schönsten für uns.
    Endlich ist es vorbei, sofort verteilen sich alle auf der großen Wiese, um an den Holztischen Skat zu spielen, oder man stellt sich an einer der Tischtennisplatten bei Chinesisch an. Wer keine Kelle hat, spielt solange mit der Hand, bis ihm ein Ausgeschiedener seine borgt. An der großen Tafel, wo der Wochenplan hängt, ist unter «UNSER LAGERLEBEN» eine Zielscheibe für Bogenschießen aufgemalt. In der alten Holzscheune kann man sich Sportgeräte ausleihen, ein Rucki-Zucki, Plastekegel oder dieses Spielgerät, das in jeder Spielzeugkiste liegt, ohne daß ich jemals erfahren hätte, wozu man es benutzt. Ein Lederbällchen, das unten flach ist und drei bunte Plastefedern hat. Man kann es in die Luft werfen, aber da bleibt es dann auch nicht länger, als wenn es keine Federn hätte.
    Die Mädchen aus den kleinen Gruppen stehen in Pulks und erzählen sich atemlos, als seien sie am Ertrinken. In Pärchen laufen Jungs wie blind durchs Lager und sehen nicht von ihrem Autoquartett auf: «2000 U/min?»

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