Schneckenmühle
dem Rasen durcheinanderrannten. Richtiger Rasen mit echten Toren, bei denen man nicht diskutieren mußte, ob der Ball drin gewesen war. Beim Asphaltplatz nehmen wir Zaunsegmente als Tore und beim Rasen vor unserem Haus Jacken oder unsere Mappen. Man darf dort nicht über den Metalleinsatz eines Gullys stolpern, der seit dem Einzug, als hier noch alles Schlamm gewesen war, mitten auf dem Rasen liegt und nie montiert worden ist. Der Rasen ist auch nicht rechteckig, und das Gras ist bei den Toren schon so runtergetreten, daß ich im Frühjahr immer besorgt vom Balkon gucke und hoffe, daß es sich wieder erholt. Ich will in der Gärtnerei am Bahnhof einen großen Beutel Samen kaufen und streuen, aber aus solchen Ideen wird leider nichts, es kommt einfach nicht dazu, daß ich es auch mache. Das Vorhaben liegt mir nur auf der Seele, selbst wennes längst nicht mehr aktuell ist. Ich glaube, das habe ich von meiner Mutter geerbt, sie macht manche Briefe nicht auf, weil sie dem Absender schon so lange nicht geantwortet hat. Sie hat 30 Jahre alte Briefe, die immer noch ungeöffnet sind.
Als wir dann kurz vor Schluß mitspielen durften, ging alles so schnell, der Ball war immer woanders, ich wurde angeschrien: «Linie! Linie!» oder «Winkel verkürzen!» Es war sinnlos, die anderen hatten einen Vorsprung, den ich nie wieder einholen würde. Und jetzt hieß es: «Warum hast du denn nicht die Zehn geschnitten?» Sie wissen auch immer schon, was der andere spielen wird, und schieben ihre nächste Karte ein Stückchen aus dem Fächer hoch. Dann wundern sie sich, was ich spiele, und schieben sie wieder runter. Man kann auch nicht schummeln, weil sie sich jeden Stich merken. Wo haben sie das alles gelernt? Was habe ich in der Zeit gemacht?
Eike fordert mich auf, mit den Mittelfingern die Mundwinkel breitzuziehen und möglichst schnell zu sagen: «Die Hühner picken auf dem Hof.» Solche Aufgaben lassen mich immer ratlos, erst kapiere ich nicht, wo der Witz ist, und dann ist es etwas Schweinisches, und ich muß mich verstellen, damit sie nicht merken, daß sie nicht mein Niveau haben. Dennis nimmt seine Trinkflasche und kippt Tee aus dem Fenster, weiter hinten im Waggon kreischen Mädchen. Wir setzen uns mit den Karten in der Hand kerzengerade hin und verziehen keine Miene, als Wulf rumgeht, um die Schuldigen zu suchen: «Euch geht’s wohl zu gut?» Ich frage ihn, ob das eine Bundeswehrbrille ist, und das Wort kommt mir so fremdartig vor, so auffallend unpassend für unsere Welt. «Bundes», das ist diesesFoto von einem Pärchen auf der Rückseite einer Packung Aufkleber aus meinem Besitz. Ihr gesamter Hausrat, vom Fernseher bis zur Tennisschlägerhülle, ist neu und aus orangefarbener oder weißer Plaste, und überall klebt ein Aufkleber drauf. Eben beklebt die Frau auch noch das Surfbrett, sie sieht zu ihrem Mann hoch, ob sie es auch richtig macht, und beide lächeln, weil er es ihr nie übelnehmen würde, wenn der Aufkleber etwas schief sitzen würde. Sie sind so glücklich, wie mühelos das Aufkleben geht und wie gut sie beide zueinander passen. Das ist für mich «Bundes».
Auf die Vorhänge, die im Wind flattern, weil wir das Fenster mit viel Mühe nach unten gezogen haben – zwei von uns mußten sich dafür an den Griff hängen –, sind die Buchstaben «DR» gedruckt. «Deutsche Reichsbahn», sagt Matthias. Man bekommt fast einen Schreck, das klingt so verboten, «Reich», so ein Wort kann man eigentlich gar nicht laut aussprechen. Ist das übersehen worden? In Weißensee gibt es eine «Gustav-Adolf-Straße», das klingt auch so unheimlich, wegen «Adolf». Es gibt das «deutsche Blatt», mit «Schell» und «Eichel», «Ober» und «Unter». Es wirkt eigentlich fremdartiger als das französische, das normalerweise benutzt wird. Es kommt von irgendwo unten im Land, stelle ich mir vor, weit weg von Berlin, also ungefähr, wo wir gerade hinfahren, da ist «Deutschland» früher gewesen.
«DR: ‹Dein Risiko›», sagt Marko. Ein Gefühl der Überlegenheit, es kitzelt im Bauch, immer, wenn man sich über unser Land lustig macht. Wenn der Gestank einer Fabrik hereinweht und wir uns empört die Nasen zuhalten. Im Westen wird der Qualm gefiltert (wie einfach das geht,sieht man doch an den Zigaretten), oder es wird irgendwie dafür gesorgt, daß er angenehmer riecht. Aber bei uns haben sie offenbar noch nie etwas von Fortschritt gehört.
Ich habe immer noch nicht gespielt, ich warte auf ein gutes Blatt, vier Buben und vier
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