Schneckenmühle
Löffel zu verbiegen, wir verstanden überhaupt nicht, was daran die Kunst sein sollte.
Unseren Lärm nehmen wir selbst gar nicht wahr. Geschichten machen die Runde, was jeder mal im Essen gefunden hat, oder zumindest davon gehört. Ein Fingernagel in einem «Hamburger» in Budapest. Ein Rattengerippe in einer Büchse Erbsen. Eine leere Speiseöl-Verpackung, ins Brot eingebacken. Und in der Fabrik, wo die überhaupt nicht nach Schokolade schmeckende Creck-Schokolade hergestellt wird, hat jemand gesehen, wie die Kakerlaken den Rührarm langkrabbeln und bei jeder Runde in den Kessel gewischt werden. Aber man muß vorsichtig sein, denn es gibt auch die Geschichte von einem, der auf Ekelerzählungen beim Essen so empfindlich reagierte, daß er dem Erzähler seine Suppenschüssel über dem Kopf ausgekippt hat. Manchmal gibt es einen Tumult, alle drehen sich in eine Richtung, wo sich eines von den kleineren Kindern auf seinen Teller übergibt. Der ist allergisch, oder es hat mit Heimweh zu tun.
Mir gegenüber sitzt wieder die Sächsin, sie guckt traurig und piekst mit der Gabel im Bayrisch Kraut. Sie hat ganz leichte Segelohren, nach oben etwas spitz, wie bei einem Eichhörnchen. Es reizt mich, daß sie gar keine Notiz von ihrer Umwelt nimmt. Woran denkt sie? Könnte ich sie aufheitern? Auf dem Schüsselrand hat sie um ihre Bohnensuppe einen sehr symmetrischen Ring Brotbrocken verteilt. Ich bekomme plötzlich so ein Gefühl von Gerührtheit, als würde mein Herz mit einer Feder gekitzelt. Wie bei dem kleinen, weißen Hund in der einen Geschichte aus «Lustige Geschichten», als sein Begleiter, der Schneemann, im dichten Winterwald vom Sturm zu einem Haufen Schnee verweht wird, und der Hund «bitterlich» weint. Er muß den Hasen und Eichhörnchen versprechen, nicht mehr hinter ihnen herzujagen, wenn sie ihm helfen sollen. Sie bauen dann den Schneemann wieder zusammen, und so kann der Schneemann den Brief der Kinder mit der Bitte um eine Neujahrstanne an Väterchen Frost überbringen.
Wir sollen uns schon mal Gedanken machen, sagt Wulf, was wir zur Abschlußfeier aufführen wollen. Meistens ist die älteste Gruppe ja eine Band mit bei der Basteltante selbstgesägten, zackigen E-Gitarren mit Zebramuster. Wollen wir das auch? Vielleicht wieder die Rentnerband von der «Andrea Doria»? Das klappt doch immer so gut, wenn dem einen an der entsprechenden Stelle das Pappgebiß aus dem Mund fällt? Oder wir führen ein Stück auf?
«Was denn? Von Shakespeare?»
Das habe ja noch Zeit, wir sollen es uns aber schon mal überlegen. Und die täglichen Stubendurchgänge, daß wir uns da Mühe geben, nicht die schlechtesten zu sein. Das wird an einer Tafel für jede Gruppe notiert, eine Sonne für «sehr gut» und eine Wolke mit Blitz für «mangelhaft». DenJungen ist es natürlich fast unmöglich, jemals besser dazustehen als die Mädchen, das schafft man höchstens an einem einzigen Tag, wenn sich alle gemeinsam außerordentlich anstrengen.
Und wenn was passiert. Schlangengift, das stimmt gar nicht, daß man das aussaugen muß, das ist zu gefährlich, falls die Lippen rissig sind. Abgeschnittene Finger in einer Tüte mit Eis transportieren, und wenn man keine hat, im Mund aufbewahren. Bei Fundmunition: sichern und melden. Und Rehkitze nicht anfassen, die verhungern sonst. Frühblüher gebe es ja jetzt nicht, sonst sollten wir aber trotzdem nicht drauftreten.
Außerdem möchte Wulf mit uns eine Zeitkapsel vergraben. Eine Schachtel mit Sachen drin, für die Zukunft. Wir sollen uns mal überlegen, was da reinkommen müßte.
«Muß das wertvoll sein?»
«Das weiß man ja nicht, was in Zukunft wertvoll ist.»
«Und kriegen wir das wieder?»
«Nein, das ist wie ein Brief, den kriegt man ja auch nicht wieder.»
«Briefe sind ja auch nicht wertvoll, man kann ja einfach noch einen schreiben.»
«Aber für den, der ihn bekommt, kann ein Brief sehr wertvoll sein.»
«Wegen der Briefmarke?»
«Nein, wegen dem, was drinsteht.»
«Da steht doch immer dasselbe drin.»
«Das wichtigste steht oft zwischen den Zeilen.»
«Das hat Lenin auch so gemacht, mit Milch zwischen die Zeilen geschrieben, und das Tintenfass war aus Brot, das hat er schnell verschluckt, wenn ein Gefängniswärter kam.»Durch die Fenster vom Essensaal sehen wir die Wiese hinter dem Steinhaus. Dort mäht Opa Schulze Gras. Er wohnt in einem der Dörfer in der Gegend, und alle sind der Meinung, daß «Schneckenmühle» ihm früher gehört hat, bevor er in die LPG
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