Schneckenmühle
automatisch benutzt habe, ich weiß gar nicht genau, was ich damit meine. In den Liedern aus der Schule wird es immer auf «Brot» gereimt. Zum Glück gibt es ja Mutter Teresa. Ich traue mich nicht, den Kopf nach links zu wenden, um zu sehen, ob Irina an ihrem Kinderzimmerfenster steht. Ich habe sie eigentlich nur einmal dort gesehen, aber seitdem mache ich das abends. Damit ich ungestört bleibe, ziehe ich hinter mir die Gardine zu. Ich stelle mir ihren Schreibtisch mit einem Häkeldeckchen vor und einer Blumenvase darauf. Bei mir stapeln sich Schulhefte, Urkunden, Aufkleber, leere Notizbücher und Knallplätzchen. Ein einzelnes Dia vom Matterhorn, das eine Beigabe aus einer Packung Toblerone war, wohin damit? Ein Bierglas mit dem Autogramm von Lothar Thoms, natürlich nur aufgedruckt. Dafür von Gojko Mitić ein richtiges Autogrammfoto, eine Kollegin meiner Eltern wohnt im selben Haus wie er und hat ihn für mich darum gebeten. Seltsamerweise trägt er eine Schapka, das paßt gar nicht zu ihm. Ich kann nichts wegwerfen, es ist ja alles, was ich habe. Der Kinder-Schreibtisch ist eigentlich ein Schminktisch, und deshalb hat er einen Spiegel in der aufklappbaren Tischplatte. Wenn ich später ausziehe, werde ich den Spiegel mitnehmen, einen Spiegel habe ich dann schon mal.
Auf dem vergitterten Fußballplatz spielt nur Janek, der eine Klasse unter mir in die Schule geht. Er wird von seinen Mitschülern gehänselt, weil er so schmächtig ist, seine Stimme überschlägt sich, und er kaut die Worte. Früher ist er kein schlechter Spieler gewesen, aber er hat sich körperlich nicht weiterentwickelt. Er schießt auf das Zaunfeld, das als Tor dient, es scheppert, und er reißt die Arme zum Torjubel in die Höhe und rennt in dieser Pose über den halben Asphaltplatz. Er tut mir leid, aber ich kann nicht mit ihm spielen, das wäre wie freiwillig Müll aufsammeln auf dem Hof, mein Vater hat uns mal dazu gezwungen, wir sind schließlich Christen und müssen die andere Wange hinhalten. Janeks Vater repariert manchmal unsere Radios, die abgebrochenen Antennen, er hat im Betrieb ein Lötgerät «für Eisen», mit dem das geht. Ich war deshalb einmal unten in ihrer Wohnung, die Frau lag auf dem Ehebett, Tochter und Sohn rechts und links in den Armen, sie sahen eine Volksmusiksendung. Das erste Mal, daß ich Zeuge davon wurde, daß jemand bei so einer Sendung nicht umschaltete. Sie sang leise mit und schunkelte mit den Kindern. Ich wunderte mich, daß bei ihnen das Bett in einem anderen Raum stand als bei uns. Wir nutzen unsere Wohnung einfach nicht so, wie es vorgesehen ist. Ich wünsche mir immer, daß wir unsere Durchreiche wirklich einmal als Durchreiche benutzen, aber in der Eßtischecke hinter der Küche stehen bei uns ein Sessel und das Klavier. Meine Freunde finden das immer befremdlich.
Es ist noch lange hell. Hinter dem Neubaublock, der unserem gegenübersteht, wächst eine Reihe Pappeln jedes Jahr ein bißchen höher, man sieht immer mehr von ihren Spitzen, was meine Mutter so freut. Natürlich werden diePappeln das Haus nie verdecken, weil sie ja
dahinter
wachsen. Bei unserem Einzug hat man sie aber noch nicht sehen können, und daß sich das ändert, ist für meine Mutter ein großer Trost. Meine Eltern achten darauf, daß wir regelmäßig ins Grüne kommen, weil wir sonst verkümmern, wie man an Janek sieht, dessen Eltern sich offenbar keine Zeit für Ausflüge nehmen. Sie haben allerdings auch kein Auto. Leider kann mein Vater beim Spazieren seit Jahren keine Tiere beobachten, weil wir sie mit unserem Geschrei verscheuchen. Man muß sich entscheiden: Kinder oder Wildschweine.
Der Himmel über dem Neubaublock färbt sich intensiv rot, in allen Nuancen, quer über den Horizont, darauf sind wir immer stolz, wenn Besuch kommt, besonders bei Westbesuch, das hätten die nicht gedacht, daß man in unseren Neubauten solche Sonnenuntergänge geboten bekommt? Wenn es auch kein gutes Klebeband zu kaufen gibt. Selbst in der Schule werden die ausgeschnittenen Picasso-Friedenstauben mit Tesa-Band an den Scheiben befestigt, weil unseres nicht hält. Die Verwandten bringen auch immer ihr eigenes Klopapier mit. Die letzten Rollen des weichen, rosafarbenen Papiers, die sie uns am Ende dalassen, benutzen wir als Taschentücher, wenn die Weihnachtsservietten alle sind. Ich finde es praktisch, daß das West-Papier perforiert ist, so daß es leichter fällt, es portionsweise abzureißen. Das geht wie beim Notizpapier in unserem Adreßbuch
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