Jerry Cotton - 0553 - Ein Toter wird ermordet
»Bist du sicher, daß du nicht geträumt hast?« fragte ich leise, den Hörer ans Ohr gepreßt. »Dein Mann ist seit drei Jahren tot, Nora. Du selbst hast seine Leiche identifiziert. Also kann er dich jetzt nicht angerufen haben. Du hast bestimmt geträumt, Nora. Es ist mitten in der Nacht. Manchmal verwischen sich Traum und Wirklichkeit.«
»Nein, Jerry.« Flüsternd drang ihre Stimme durch den Draht. »Ich bin hellwach. Ich täusche mich nicht. Es war Jacks Stimme. Bestimmt! Jerry, bitte — ich weiß, es ist viel verlangt, aber kannst du herkommen? Ted ist nicht da. Es hat auch keinen Zweck, ihn anzurufen. Vor vier Uhr kommt er aus der Bar nicht weg. Aber wenn ich allein bleibe, sterbe ich vor Angst.«
Ihre Stimme klang heiser. Das Gespenst einer großen, ungewissen Gefahr stand drohend hinter ihr.
»Gut, ich komme. Laß vor mir niemanden herein.«
»Danke, Jerry. Ich koche inzwischen Kaffee. Du bist gleich hier, ja?«
»Ja.« Ich legte auf. Für einen Moment hockte ich mit angezogenen Knien in meinem Sessel. Dann stand ich auf und sah Phil an.
Er wollte grinsen. Aber sein Gesicht war so müde, daß das Grinsen in den Mundwinkeln hängenblieb. »Alter Junge«, sagte er, »bei dir erlebt man immer neue Überraschungen. Jetzt, um 2.47 Uhr in einer kalten Oktobernacht, ruft dich eine junge Dame in deiner Wohnung an und bittet um deinen Besuch. Jung ist sie doch, oder?«
»Vierundzwanzig.«
»Soviel ich weiß, ist das die erste Nora, von der ich im Zusammenhang mit dir höre. Eine Witwe?«
»Nein, sie hat wieder geheiratet. Ich habe Nora Hatching vor drei Jahren dienstlich kennengelernt. Als sie später hilflos durch diese verdammte Stadt irrte, habe ich mich wie ein Bruder um sie gekümmert. Wenn dein Gedächtnis nicht so viele Löcher hätte, könntest du dich daran erinnern.«
Phil gähnte. »Mir hast du nichts davon erzählt.«
Ich ließ ihn allein mit seiner Müdigkeit, mit seinen umschatteten Augen und der Wut auf die Anstrengungen unseres Jobs. Ich ging in die Küche. Im Eisschrank fand ich zwei Flaschen Cola. Ich war todmüde. Als ich in den Küchenspiegel sah, erschrak ich. Meine Augen waren eingesunken. Vierzig durchwachte Stunden zeigten ihre Wirkung. Hätte ich noch die Kraft besessen, hätte ich geschimpft: auf den letzten Tag, auf die Razzia heute nacht, auf das endlose Durchstöbern aller Schlupfwinkel des East End. Während wir dort suchten, wurde der Grund unseres Suchens von einem Patrolman in einer Stehbierhalle der 23. Straße verhaftet. Der Grund war ein vermutlich geistesgestörter Mörder. Gestern morgen hatte er seine Frau und seine beiden Kinder mit einem Beil erschlagen. Ich schlurfte in den Wohnraum zurück. Phil klappte mühsam die Augen auf.
»Kommst du endlich mit dem Zeug?«
»Wenn du anfängst zu maulen, trinke ich beide allein.«
Ich schenkte Cola und Whisky in zwei Gläser. Wir tranken.
Phil sah auf die Uhr. »2.50 Uhr. Wird Zeit, daß du dich auf die Socken machst. Die Dame könnte abkühlen.«
»Du kommst mit.«
»Waaaaaas?«
»Wenn ich allein fahre, schlafe ich ein. Also reiße dich am Riemen.«
»Dieser Mensch«, sagte Phil. »Man sollte ihn schlachten, ausstopfen und als abschreckendes Beispiel am Times Square aufstellen.«
***
Es war eine frostige Oktobernacht. Die Stadt schlief. Nur in den Bars, hinter den Kulissen der großen Hotels, auf den Bahnhöfen und in den Flughäfen lief das Leben weiter, wenn auch gemächlicherem Rhythmus als am Tage.
Jim, der Einbrecher, schlich jetzt witternd durch einen Villengarten in der Park Avenue, um gleich darauf mit äußerster Vorsicht eine Scheibe einzudrücken. Die Gammler Chas, Robert und Nap arbeiteten mit schweißigen Gesichtern an der Verankerung eines Lebensmittel- oder Zigaretten-Automaten. Schwere Polizeistiefel dröhnten in den engen Gassen des East End. Irgendwo lag der Handelsvertreter Sidney schlaflos in seinem Bett, stierte in die Dunkelheit und dachte zum xten Male darüber nach, wie er seine Frau Elsa — die er seit Jahren haßte — bequem und gefahrlos beseitigen könne.
Und wir — natürlich — schliefen auch nicht. »Na, los! Erzähl schon!« Phil schnatterte vor Kälte. Er saß neben mir im Jaguar, umhüllt von seinem neuen Kamelhaarmantel.
Ich fuhr nach Norden, hinauf zur 187. Straße.
»Sie heißt Nora Hatching. Vor drei Jahren hieß sie Nora Gilvan. Sie stammt aus einem kleinen Nest in Wyoming und war damals erst kurze Zeit hier. Ein gewisser Jack Gilvan, Chef einer Espressobar in der
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