Schneebraut
in Siglufjörður bleiben würde. Das Dorf war für Tómas dagegen Endstation, ein Aufenthaltsort von Dauer, und sie wussten beide, dass Ari einzig und allein hergekommen war, um sich Erfahrung anzueignen.
»Hi, was machst du denn hier?«, fragte Ugla und schaffte es, Ari aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er hatte nicht gesehen, dass sie sich genähert hatte.
Er zögerte, war ein ganz klein wenig unsicher, wusste aber selber nicht genau, warum. »Es ist etwas passiert«, sagte er schließlich. »Es hat einen Unfall gegeben … einen Unfall auf der Treppe drinnen.«
Die Schwere, die er zuvor in ihren Augen wahrgenommen hatte, war unmittelbar darin zurückgekehrt. Aus ihrem Blick war zu lesen: »Wer?«
»Der alte Hrólfur ist die Treppe hinuntergefallen«, sagte er mit ernstem Ausdruck.
»Und wie geht es ihm?«, fragte sie sofort.
»Er ist tot.«
Ugla stand einen Moment ganz still und schwieg, dann traten einige Tränen hervor und liefen ihr über die Wangen. Sie trat näher an Ari heran, umarmte ihn fest; er zögerte und umarmte sie dann ebenfalls.
Sie ließ nach einer kurzen Weile von ihm ab und trocknete ihre Tränen. »Ich kann es nicht glauben.« Sie zögerte mit weinerlichem Ausdruck und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Ich kann es einfach nicht glauben«, wiederholte sie. Es fielen immer noch einige Tränen, sie trocknete sie und versuchte zu lächeln: »Er war immer so lieb. Ich glaube, es ist am besten, wenn ich nach Hause gehe. Ich kann mich so in der Öffentlichkeit nicht sehen lassen.« Fügte dann hinzu, in einem offensichtlichen Versuch, sich zusammenzureißen: »Wir sehen uns dann am Sonntag.«
Ari braucht einige Sekunden, um sich zu besinnen. Sonntag. Die nächste Klavierstunde.
»Ja, ja – genau – bis dann.«
Er stand verwirrt da und sah ihr nach, wie sie in die Dunkelheit verschwand.
Úlfur kam aus dem Haus und schien mit Tómas den Frieden verhandelt zu haben. Pálmi folgte ihm, etwas düster im Gesicht. Sie würdigten Ari keines Blickes und gingen ihrer Wege. Ari ging erneut hinein.
»Sollen wir zur Wache fahren?«, fragte er Tómas.
Tómas sah auf die Uhr.
»Ich werde den ersten Rapport schreiben, Meister. Du kannst nach Hause gehen und dich ausruhen, wir sehen uns dann morgen früh. Ich muss sowieso noch bis spät in die Nacht arbeiten.«
Es schien, als ob Tómas das mit einer gewissen Leichtigkeit sagte, als ob er kein Interesse daran hätte, nach Hause zu seiner Familie zu gehen.
19. Kapitel
Siglufjörður,
die Nacht auf Samstag, 10 . Januar 2009
Ari erwachte jäh, nass geschwitzt und wusste im ersten Moment nicht, wo er sich befand. Wie ein Gefangener im eigenen Körper, er konnte kaum atmen. Er setzte sich im Bett auf und sah sich um. Atmete schnell, versuchte, tiefer zu atmen. Die Wände schienen ihn einzuengen, er hatte Lust, zu schreien, wusste aber, dass es nichts nützen würde. Es war dasselbe bedrückende Gefühl, das ihn am Heiligabend auf der Wache bereits überkommen hatte. Er stand auf und schaute zum Fenster hinaus – rabenschwarze Nacht. Er schaute auf die Uhr; mitten in der Nacht – draußen schneite es. Er wusste in der Zwischenzeit wieder, dass er in Siglufjörður war, in seinem Schlafzimmer. Er streckte sich nach dem Fenster, öffnete es und atmete die frische Luft ein – die frische und eiskalte Luft. Es änderte nur wenig. Er musste dieses überwältigende Gefühl loswerden. Konnte sich nicht vorstellen, sich wieder hinzulegen und einzuschlafen. Vielleicht musste er einfach nur runtergehen, aus dem Haus, in die Nacht hinaus. Wusste aber sogleich, dass das nicht genügen würde. Es würde ihm keine Ruhe verschaffen, auf der Straße zu stehen und in den Himmel zu schauen, zu spüren, wie der Schnee seinen Verstand füllte, in der Gewissheit, dass es mit jeder einzelnen Schneeflocke wahrscheinlicher schien, dass die Straße aus dem Fjord heraus gesperrt würde und er an diesem unbekannten Ort festsitzen müsste – gefangen, eingesperrt.
Dann verstand er plötzlich, warum er aufgewacht war.
Es befand sich jemand im Haus.
Ein Ächzen in den Dielen unten.
Er war nicht allein.
Das Geräusch von unten hatte ihn anscheinend geweckt. Sein Herz schlug schneller. Die Furcht vor dem Unbekannten überwältigte ihn; er musste schnell handeln, durfte keinen Gedanken an den Schnee mehr verschwenden, der ihn noch vor einem Augenblick zu ersticken drohte.
Er schlich sich so leise wie möglich in den Flur und zur Treppe, vernahm von unten noch immer
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