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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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vor sich hin: »Harvard, das war ganz zweifellos das schönste Jahr meines Lebens.«
    Während er das sagte, ging mir etwas durch den Kopf, das man kaum als Gedanken bezeichnen konnte. Es war eher eine Vermutung, ein plötzlicher Einfall, der schnell in Worte gefasst werden musste, weil er sich sonst wieder verflüchtigt hätte.
    »Eine Frage: Hast du damals mit Hebe im Woo Ping gesessen?«
    » Woo Ping? Woher soll ich das jetzt noch wissen? Ja, könnte durchaus sein, aber warum interessiert dich das?«
    »Ich ging an dem Tag auf dem Weg zum Konzertsaal durch den Diefsteeg. Im Woo Ping sah ich einen Hinterkopf, der mir bekannt vorkam. Ich dachte: Da sitzt Julia. Als ich rein bin ins Restaurant, um nachzusehen, mit wem sie dort saß, entdeckte ich deinen Hinterkopf. Aber ich habe mich geirrt, du warst nicht mit Julia dort, es war mit Hebe.«
    »Damals kannte ich Julia noch gar nicht.«
    »Nein, deshalb war ich auch so verwundert darüber, dass du mit Julia dort warst. Ich dachte, du willst sie mir ausspannen, so wie du mir alle anderen Mädchen ausgespannt hast. Darum bin ich am nächsten Tag bei dir vorbei, um dich zur Rede zu stellen. Aber du hattest den Kopf so voll mit deiner Nominierung für Harvard, dass ich kein Wort über Julia verloren habe. Im Nachhinein schade, denn es hat mich tief verletzt, dass du dich auch an Julia herangemacht hast.«
    »Was für ein Unsinn, davon konnte nie die Rede sein.«
    »Es hätte aber durchaus sein können.«
    »Julia sieht Hebe ähnlich. Auch sie hat manchmal fürchterliche Depressionen.«
    Wir erreichten das Krematorium, parkten den Wagen, gingen hinein und gelangten in einen Saal voller Menschen, die wir nicht kannten. Zwei Trauerreden wurden gehalten; die von Hebes Schwester endete vorzeitig, weil die Sprecherin in Tränen ausbrach. Von der Möglichkeit eines Selbstmords sprach niemand. Nach der Trauerfeier fragte uns ein grobknochiger Mann misstrauisch: »Woher kanntet ihr Hebe?«
    Jouri erwiderte: »Wir sind zusammen zur Schule gegangen.«
    »Ach, daher«, sagte der Mann.
    Dann fuhren wir wieder. Der Himmel war schiefergrau, doch trotz der weiterhin fallenden Schneeflocken sangen die Amseln. Schon bald standen wir wieder im Stau, aber das störte uns nicht.
    Jouri sagte: »In Harvard haben Hebe und ich miteinander geschlafen, obwohl es eigentlich von Anfang an für mein Empfinden nur eine feuchte, klebrige und ziemlich primitive Angelegenheit war. Später hatte sie danach zum Glück kein Bedürfnis mehr, wir lagen nur noch nebeneinander auf dem Bett und kuschelten ein bisschen, während wir uns die meiste Zeit friedlich unterhielten. Ach, welch ein Unterschied zu Frederica. Die will immer nur küssen, kosen, miteinander schlafen. Dazu habe ich nur höchst selten Lust. Das nimmt sie mir übel. Zum Glück hat sie offenbar schon vor Jahren jemanden gefunden, mit dem sie ins Bett geht.«
    »Wie kommst du darauf?«, fragte ich so beiläufig wie möglich.
    »Irgendwann hörte sie von einem Tag auf den anderen auf, darüber zu jammern, dass es mir keinen Spaß mehr macht, mit ihr zu schlafen, wenn es mir denn überhaupt je Spaß gemacht hat.«
    »Du glaubst also, sie hat einen Liebhaber?«
    »Das weiß ich ziemlich sicher.«
    »Irgendeine Ahnung, um wen es sich handelt?«
    »Ich habe eine recht scharf umrissene Vermutung.«
    Wir schwiegen eine Weile. Ich schaute zum Himmel. Offenbar war es nicht vorgesehen, dass es an diesem Samstag noch einmal aufklarte.
    Jouri sagte: »Jetzt, da Hebe nicht mehr lebt, gibt es eigentlich nichts mehr, was mich hier in Holland hält. Ich spiele verstärkt mit dem Gedanken, wieder nach Harvard zu gehen.«
    »Will man dich denn dort haben?«
    »Ach, die fragen doch ständig bei mir an.«
    Wieder schwiegen wir. Nachdem wir mindestens fünf Kilometer gefahren waren, sagte er: »Wenn ich nach Harvard gehe, geht Frederica zweifellos mit, denn scheiden lassen will sie sich bestimmt nicht. Aber dann lässt sie ihren phantastischen Liebhaber hier zurück, und das Gejammer im Bett geht von vorne los.«
    »Sie ist noch immer wunderschön. Wenn sie will, kann sie sich einen neuen Liebhaber zulegen.«
    »Könnte gut sein, aber das würde ich doch sehr, sehr schlimm und erniedrigend finden. Der Liebhaber, den sie jetzt hat, ach, mit dem hab ich mehr oder weniger meinen Frieden gemacht, auch wenn man nicht sagen kann, dass das alles sehr schön ist, aber was soll’s, meinen Segen haben sie, und außerdem hat das Ganze ja auch eine gewisse Logik, ja sogar etwas

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