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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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1. Kapitel
    Es war der Morgen des 24. Dezembers. Ich hatte weder das Taxi gerufen noch die Angst, die vor der Tür bereits warteten, als wir auf die Auguststraße hinaustraten. Der Taxifahrer nickte mir zu, ein düsterer, greiser Mann. Alex reichte ihm meinen Koffer. Es war der altmodische Lederkoffer meiner Mutter, in dem ich bereit als Kind gespielt hatte: Ich segle bis zur Nordsee davon. Der Koffer war schwer. Doch der Alte hob ihn mit einer Leichtigkeit in die Limousine, die mich überraschte. Dann fuhren wir los.
    Wenigstens machte das Auto einen guten Eindruck; es war ein dunkler Mercedes, ein luxuriöses Modell, das ich in Berlin noch nie als Taxi gesehen hatte.
    „Ich kenne die Stadt wie meine Westentasche“, versicherte der Fahrer auf Alex’ Nachfrage, ob ihm der Weg zum Flughafen Tegel auch bekannt sei. Alex schien sich ebenfalls Sorgen zu machen. Doch der Fahrer hatte keine Schwierigkeiten im Straßenverkehr, er hatte auch keinen Dialekt, das Einzige, was ihm zu fehlen schien, war ein Zahn, als er mich im Rückspiegel angrinste.
    „Wir nehmen die Chausseestraße, Müllerstraße, Seestraße, Saatwinkler Damm“, kam er Alex entgegen. „Ist das in Ordnung?“
    „Aye, aye“, sagte Alex, der nicht gerne unhöflich wirkte. „Sie sind der Käpt’n.“
    Der Himmel war grau und hing voller Wolken, im Radio spielten sie Musik. I'm driving home for Christmas, sang eine sanfte, beruhigende Männerstimme, doch als Alex meine Hand berührte, zuckte ich zusammen.
    Entspann dich, Anne .
    Besorgt blickte Alex mich an. Dann erhellte ein Lächeln sein Gesicht, das nicht eher verschwinden würde, bis er die Antwort erhielt: Alles ist gut. Alles unter Kontrolle . Ich lächelte zurück.
    Wir fuhren die Chausseestraße hoch. Graue, erloschene Häuser säumten unseren Weg. Die Weihnachtsbeleuchtung war noch nicht eingeschaltet. Man sah die Lämpchen und Kabel, die entlang der Fenster, Türen und Simse angebracht waren, vergilbte Plastikröhren, schmutzige Birnen. Ein Weihnachtsmann kletterte an einem Seil hoch in den dritten Stock.
    Für viele Menschen war Weihnachten das schönste Fest des Jahres. Für mich bedeutete es einen Parcours-Lauf, der sich von Jahr zu Jahr in seiner Schwierigkeit steigerte: Es gab Düfte, Gewürze und Worte, die ich vermeiden musste, um nicht in Panik zu verfallen. Der Duft von billigem Orangenöl gehörte dazu, der Geschmack von Nelken und Worte wie „Knabe“ oder „finsterer Tann“. Letztlich kam es aber auf eine bestimmte Konstellation an, die nicht immer vorhersehbar war, was die Sache außerdem erschwerte. Vor allem aber gab es ein Lied.
    Der Fahrer wechselte den Sender. Ich entspannte mich. Tschaikowski war ungefährlich.
    Ein Lied, in dem jedes Wort getränkt war mit einer dunklen, kalten Flüssigkeit, die wie Gift in meinen Körper eindrang und ihn zu einem harten Klumpen machte. Dieses Lied war die Essenz meiner Alpträume, das wusste ich. Doch ich wusste lange Zeit nicht, warum.
    „Ein Kindheitstrauma“, sagte mein Therapeut Dr. Samuel Frey. „Ein Schock, der nicht verarbeitet werden konnte. Die Verdrängung ist derart stark, dass wir da allein über Gespräche nicht drankommen.“
    An jedem anderen Tag des Jahres war ich ganz normal. Ich wage sogar zu behaupten, dass ich überdurchschnittlich beliebt war, zumal bei meinen Patientinnen, die immer wieder mein hohes Maß an Empathiefähigkeit rühmten: Wenn sie Schmerzen hatten, litt ich mit ihnen. Wenn sie vor Glück weinten, weinte ich mit ihnen. Überhaupt weine ich schnell.
    Draußen am Leopoldplatz begannen die Vorbereitungen für den Weihnachtsmarkt. Jemand arrangierte Tannenzweige mit roten Kerzen. Ich starrte auf die Kopflehne vor mir, in die ein Computer eingelassen war. Werbung flackerte über den Bildschirm: Julia Roberts bahnte sich in einem weißen Glitzerkleid den Weg durch eine dunkle Gesellschaft. In einer Welt voller Zwänge und Konventionen – gäbe es einen anderen Weg? , las ich, bevor der Flakon eingeblendet wurde: La vie est belle. Lancôme . Dann auf Deutsch: Das Leben ist schön. Es liegt in Ihrer Hand .
    Ich schloss meine Augen.
    „Du musst dich deiner Angst stellen“, riet mir Frey, der meinem Wunsch, uns zu duzen, nach anfänglichen Bedenken längst nachgegeben hatte. „Sonst wird es von Jahr zu Jahr schlimmer. Nimm die Einladung an. Begleite deinen Verlobten und feiere das Fest der Liebe!“ Obwohl Frey seit 30 Jahren in Berlin lebte, hörte man ihm die schweizerische Herkunft noch an. Vielleicht

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