Schneekind
Herzens war ich, bevor ich Alex traf, nicht mehr bereit für eine richtige Beziehung gewesen. Also hatte ich mich die Jahre zwischen 25 und 38 voll und ganz auf meinen Beruf konzentriert. Das Einzige, was ich ohne Abstriche von mir sagen konnte, war, dass ich eine gute Hebamme war. Mein Leben hatte aus Nacht- und Wochenendschichten bestanden – und plötzlich war ich 38.
„Die Schuhe bitte auch“, sagte der Mann an der Sicherheitskontrolle. Widerwillig befolgte ich seine Anweisung, denn ohne Schuhe sahen meine Beine noch kürzer aus, als sie ohnehin schon waren. Alex’ Handgepäck war bereits durchleuchtet worden, doch etwas schien nicht in Ordnung zu sein.
„Ich bin Arzt“, hörte ich ihn sagen, als der Sicherheitsbeamte etwas betrachtete, das aussah wie eine Spritze, doch der Mann forderte Alex trotzdem auf, mitzukommen.
„Ich bin gleich wieder da, Schatz.“ Alex lächelte mich an, während ich meine Arme ausbreitete. Ich nickte.
Als Scheidungskind hatte ich Weihnachten noch nie etwas abgewinnen können. Warum mir meine Eltern ausgerechnet an meinem fünften Geburtstag mitteilten, dass sie sich trennen würden, verstand ich bis heute nicht; seitdem konnte ich auch Geburtstagsfeiern nichts mehr abgewinnen. Kurz darauf flüchtete mein Vater in den Westen, wo er wieder geheiratet haben soll. Mama und ich zogen von Zwickau nach Dresden, wo sie ursprünglich herkam und wieder Arbeit fand. Eine Karte zum Geburtstag war alles, was mir von meinem Vater geblieben war. Pünktlich zu meinem achtzehnten Geburtstag stellte er die Briefe ein und mit ihnen die 50 Mark, die darin gelegen hatten. Ich habe den Schein jedes Jahr an meiner Geburtstagskerze angezündet, weil es mir Freude bereitet hatte, damit über meinen Vater und den ganzen Westen zu triumphieren. Als die Mauer ’89 fiel, habe ich das bereut.
„Stellen Sie Ihren Fuß bitte darauf“, sagte die Frau von der Sicherheitskontrolle und tastete meine Waden ab. Auch meine Waden waren zu dick.
„Den anderen Fuß bitte.“ Die Frau sah mich gelangweilt an.
Natürlich lag es nahe, den Grund für meine Weihnachtsphobie in den ersten fünf Jahren meines Lebens zu vermuten. Deshalb hoffte Frey auch, die Erinnerung könnte zurückkommen, wenn ich nach all den Jahren wieder ein richtiges Weihnachtsfest feierte. Denn die letzten 33 Jahre hatte ich Weihnachten entweder alleine verbracht – im Bett – oder mit meiner Mutter in Dresden, die an Familienfesten meist Migräne vorgeschützt hatte, wo sie ihre Trauer meinte. War das vielleicht der Grund?
Ich zog meine Schuhe und den Gürtel wieder an. Alex war noch nicht wieder da. Zerstreut setzte ich mich auf einen freien Platz.
Mama. Meine Mutter arbeitete als Ingenieurin in einer großen Fabrik, in der die Maschinen niemals stillstehen durften, weil es dann ewig dauerte, bis sie wieder in Schwung kamen, wenn sie überhaupt wieder in Schwung kamen. Und deshalb arbeitete Mama zu unmöglichen Zeiten. Bis zu meinem 14. Geburtstag – da fiel dann die Mauer – war ich ein typisches Schlüsselkind der DDR, das seine Mutter eines Abends fragte, ob die im Westen eigentlich glücklicher seien als sie und ich. Ob man glücklich sei oder nicht, hatte Mama damals geantwortet, läge nicht am System, sondern in den Genen. Sie sah mich dabei an, als ob es beschlossene Sache sei, dass mir das gleiche Schicksal bevorstand wie ihr.
Ich starrte auf die weiße Tür, hinter der Alex verschwunden war. Was machten die nur so lange? Unruhig stand ich auf.
Im vorherigen Jahr war ich bei Mama in Dresden gewesen. Wir saßen in der Küche, ausdrücklich ohne Geschenke, und schwiegen uns an. Ihre Krebsdiagnose stand damals bereits im Raum, trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass es danach so schnell gehen würde. Anfang Februar war sie bereits tot. Während des Essens haben wir kaum gesprochen. Selbst als mir Tränen über die Wangen liefen, ich erinnere mich noch genau an die rosafarbene Serviette, die von den Tropfen dunkelrot gesprenkelt wurde, sagte Mama nichts. Warum haben wir auch nie richtig miteinander geredet? Stumm wie zwei verletzte Tiere hatten wir beieinandergesessen und unsere Zeit vergeudet.
„Alex!“, schrie ich, als sich die Tür öffnete. Dann bemerkte ich den misstrauischen Blick des Sicherheitsbeamten und senkte meine Stimme: „Was war denn los?“
Alex verdrehte die Augen und deutete auf seinen Laptop: „Die dachten wohl, ich hätte Sprengstoff da drin.“ Er lachte. „Ich liebe dich, Schatz“, sagte er, zog
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