Schneekind
den Schalter.
Die Dame betrachtete ihn mit Wohlgefallen. In seinem weißen Hemd und der dunkelblauen Jacke hätte er auch Pilot ihrer Fluggesellschaft sein können. Mit keinem Wort erwähnte sie, dass wir hier fehl am Platz waren.
Alex und ich hatten uns in der Charité kennengelernt, in Berlin, wo wir beide arbeiteten. Alex war Chirurg. Ich war Hebamme. Deshalb machte ich mir von Anfang an keine Illusionen: Es war für mich klar, dass Alex sich nur zwischen zwei stressigen Beziehungen bei mir erholen wollte. Hebammen waren nun mal eine ideale Projektionsfläche für Geborgenheit und Natürlichkeit. Dass Alex wirklich mich meinte, eine ganz normale, nicht besonders schlanke, nicht besonders sportliche, nicht besonders gut situierte Frau, das konnte ich mir lange nicht vorstellen.
„Ich liebe dich“, sagte Alex und reichte mir triumphierend meine Boardingkarte. Immer, wenn er besonders zufrieden war, sagte er: „Ich liebe dich.“ Und das war oft.
Wie bei allen Menschen, die hart an sich arbeiteten, war auch meine Selbstwahrnehmung kritischer als die der anderen. Frey, der zudem ein talentierter Zeichner war, hatte einmal nach meiner Selbstbeschreibung ein Bild gemalt. Es kam eine dicke, unattraktive Frau dabei heraus mit einem Gesicht wie ein Mondkalb. In meiner Wohnung im Wedding, in der ich zehn Jahre gelebt hatte, bevor ich zu Alex in das Penthouse nach Mitte zog, hatte das Bild an meinem Kühlschrank gehangen. Immer wenn ich es sah, musste ich lachen.
Komplimente bekam ich meistens für meine braunen, langen, glatten Haare, die ich seit jeher im Mittelscheitel trug. „Unbewusst haben Sie dabei immer schon die perfekte Symmetrie Ihres Gesichts hervorgehoben“, erklärte mir die Frau bei der Typ-Beratung, die mir Nadine zum Geburtstag geschenkt hatte. „Den Mittelscheitel können wir lassen“, entschied sie, bevor sie sich daran machte, alles andere zu verändern.
„Sie sehen aus wie die Jungfrau Maria“, hatte mir einmal ein Mann gesagt, der zufällig im Petersdom neben mir stand und zuerst zur Decke und dann auf mich zeigte. Er hatte recht. Die Frau, die oben in der Kuppel schwebte, hatte ein breites, flächiges Gesicht. Das Gesicht eines Mondkalbs. In der Tat hatte ich bereits von verschiedenen Männern gehört, dass ich schön sei wie eine Madonna; von Männern, die mich nach kurzer Zeit wieder verlassen hatten.
Dass ich mittlerweile relativ entspannt mit meinem Körper und den Bildern der Schönheitsindustrie umging, war Freys Verdienst. Aber auch Frey konnte keine Wunder vollbringen: Meine Schenkel waren zu dick, von meinem Bauch ganz zu schweigen, die Hände zu groß und der Mund zu klein. Ich machte mir nichts vor. Es gab viele Frauen, die schöner, erfolgreicher und charmanter waren als ich. Aber vor allem gab es viele Frauen, die jünger waren als ich. Ich war bereits 38 Jahre. Seit einiger Zeit färbte ich meine schönen Haare braun. Alex war 43. Seine Haare waren dunkelblond. Ich wusste, dass er Kinder wollte, das hatte er mir gleich in der ersten Nacht ins Ohr geflüstert. Warum also suchte er sich nicht einfach eine jüngere Frau?
Wie gesagt, ich habe lange gebraucht, um zu kapieren, dass Alex wirklich mich meinte.
Und dann kam der Antrag. Nie hätte ich gedacht, dass ich nochmal heiraten würde.
Meine erste Ehe ging ich im zarten Alter von zwanzig Jahren mit einem blassen Engländer ein. Auf dem Hochzeitsbild, das nur mich und ihn vor dem Standesamt zeigte, war sein Gesicht kaum zu erkennen, als wäre es überbelichtet. Wenn ich an Tim zurückdachte, sah ich das graue Meer von Le Havre, wo wir uns auf einer Fähre kennengelernt hatten. Als wir uns scheiden ließen, war ich gerade mal 25, ich schmiss ihm noch den Rucksack nach, den ich ihm geschenkt hatte, bevor er für immer aus meinem Leben verschwand. Kurz darauf schmiss ich mein Studium. Ich hatte fünf Semester Geschichte studiert, dann drei Semester Medizin, doch nach einem längeren Krankenhausaufenthalt aufgrund eines Magendurchbruchs war ich mir plötzlich sicher gewesen, Hebamme werden zu wollen.
Tim. Immer wieder verschwanden Menschen aus meinem Leben, ohne jemals wieder aufzutauchen. Papa.
Nach Tim kamen noch ein paar Beziehungen, die in der Regel nach einem halben Jahr scheiterten; meistens waren es, wie gesagt, die Männer, die mich verlassen hatten. „Aber du bist es, die sie dazu bringt, dich zu verlassen“, hatte Frey immer wieder versucht, mir einzureden. Vielleicht stimmte das sogar. Denn im Grunde meines
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