Schneekind
eine Zeitung aus seiner Laptoptasche und steuerte auf eine Sitzreihe am Gate zu, in der noch zwei freie Plätze waren.
„Ich muss nochmal kurz auf Toilette“, flüsterte ich.
Während ich meine Hände wusch, sah ich in den Spiegel. Meine Mutter blickte mich sorgenvoll daraus an. Außer der Veranlagung zum Unglücklichsein hinterließ sie mir ein Sparbuch mit 16.000 Euro und eine Kiste so groß wie ein handelsüblicher Umzugskarton. In diese Kiste hatte ihr ganzes Leben gepasst: Fotos, Briefe, ein bisschen Schmuck, mein erster Milchzahn und eine Mappe mit amtlichen Dokumenten. Als Mama starb, nahm ich mir ein paar Tage frei, ich saß in meinem alten Kinderzimmer, hörte die alten Lieder, betrachtete die alten Fotos, las die alten Briefe und Dokumente und konnte es einfach nicht fassen. Das intensive Gefühl der Verliebtheit, das ich zu dieser Zeit gerade mit Alex teilte, war mit einem Schlag zerstört; unsere Beziehung kam mir von einer Minute auf die andere vollkommen absurd vor. Also rief ich Alex an und sprach auf seinen Anrufbeantworter, dass es einfach keinen Wert mit uns habe. Es tue mir sehr leid. Danach schaltete ich mein Handy ab. Drei Tage später stand er auf dem Friedhof in Dresden – ich hatte keine Ahnung, wie er den Tag der Beerdigung herausgefunden hatte – und nahm mich in den Arm, als ich hemmungslos zu weinen begann.
„Frohe Weihnachten“, stand auf dem Display. Nachdem ich von der Toilette wieder zurück war, checkte ich mein Handy. Mit ungutem Gefühl blickte ich auf die SMS. Sie kam von Nadine. Nadine wusste, dass ich über Weihnachten mit Alex nach Stuttgart flog und sie wusste natürlich von meiner Angst. Warum schrieb sie das? Ich schaltete mein Handy aus und kuschelte mich an Alex. Er legte seinen Arm um mich. So warteten wir auf den Einstieg.
Nadine war meine beste Freundin, zumindest hatte ich das jahrelang geglaubt. Denn seit ich mit Alex verlobt war, war etwas kaputt gegangen. Nadine war sechs Jahre jünger als ich und sah aus wie ein Model; groß, blond, dünn. Was für einen Grund hätte sie schon, eifersüchtig zu sein? All die Jahre hatten wir so viel Schönes zusammen erlebt, bei schwierigen Geburten hatten wir versucht, einander zu helfen, zwei Mal im Jahr waren wir verreist, zum Beispiel nach Rom. Außer der Erinnerung an die „Ewige Stadt“ teilten wir unsere Leidenschaft zum Yoga. Unsere Freundschaft hatte sich immer echt angefühlt, doch oft dachte ich, dass schon damals etwas nicht gestimmt haben konnte. Hatte sie es mir vielleicht doch übel genommen, dass alle Schwangeren immer zuerst bei mir anfragten, ob ich für den geplanten Geburtstermin noch frei war? Erst wenn ich ausgebucht war – in der Regel waren es sechs Monate im Voraus – gingen sie zu Nadine.
„Alex hat eine Schwäche für Hebammen“, sagte sie nur, als ich ihr von meiner ersten Nacht mit Alex erzählte, mit Fieber in den Augen und wund gebissenen Lippen. „Pass auf. Er hat hier schon mit jeder was gehabt“, fügte sie dann noch hinzu.
Es gab zwei Anlässe, zu denen ich mir die Lippen wund biss: wenn ich mich stark konzentrierte oder – im Gegenteil – wenn ich mich ganz hingab.
Pass auf. Zuerst dachte ich, Nadine mache sich Sorgen. Um mich.
Pass auf. Doch sie wollte mich warnen. Vor ihm. „Hast du damals eigentlich nicht mitgekriegt, warum Amanda ihre Stelle gekündigt hat? Wegen Dr. Alexander Marquard!“ Höhnisch hatte sie den Namen ausgesprochen, als handelte es sich bei Alex um Dr. Mabuse. „Er hat Amanda regelrecht terrorisiert!“ („Aber Alex hat doch mit Amanda Schluss gemacht“, habe ich anfangs noch versucht, sie zu widerlegen, doch jedes Wort, das ich sagte, verdrehte sie ins Gegenteil.)
Pass auf. Viel zu spät merkte ich, dass sie mich tatsächlich warnen wollte. Vor ihrer Eifersucht – anders konnte ich mir ihr Verhalten wirklich nicht erklären.
„Findest du nicht, dass das alles ein bisschen schnell geht?“, fragte sie zum Beispiel, nachdem ich ihr von der Verlobung erzählt hatte. Ihr Blick war nicht so offen gewesen wie sonst, das Herz auf dem Cappuccino-Schaum hatte gefehlt, als sie mir die Tasse reichte.
„Schon komisch, dass das ausgerechnet passiert ist, als Alex dort war“, kommentierte sie die Geschichte mit der toten Hebamme aus Dresden, die noch keine zwei Wochen zurücklag. Im Bikram-Yoga, das Thermometer zeigte 39 Grad Celsius, wollte ich meinen Körper entgiften, doch Nadine trug mit ihren Bemerkungen zum Gegenteil bei: „Irgendetwas stimmt da
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