Schneekuesse
genau, warum, aber sie ist irgendwie erwartungsfroh. So, als ob nun in ihrem Leben etwas Besonderes geschehen wird. Eine entscheidende Wendung in eine neue Richtung. Dabei sitzt sie bloß neben ihren beiden Nachbarinnen, mit denen sie bisher auf dem Hausflur knapp drei Worte gewechselt hat.
Zusammengesunken kauert Linda zwischen Netty und Hannah. Sie hat ihre Gedanken ausgeschaltet. Zukunft wollte sie keine haben, also muss sie auch nicht mehr denken. Sie muss keine Schuld darüber empfinden, dass sie mal wieder ihren Mitmenschen auf die Nerven fällt, dass sie sogar deren Pläne für Weihnachten durchkreuzt. Es ist ihr egal. Komischerweise fühlt sich das gar nicht so schlecht an.
„Mal sehen, dass wir es gleich einigermaßen warm bekommen. Eine Zentralheizung gibt es in dem Haus nicht. Wir nutzen es nur in den warmen Monaten. Wir werden den alten Ofen ordentlich befeuern müssen. Es wird ganz schön ausgekühlt sein“, Netty spricht mal wieder die praktischen Dinge an, während sich die anderen beiden ihren philosophischen Überlegungen hingeben. Netty hat dazu keine Zeit.
Als das Taxi vor dem kleinen roten Holzhaus mit den weißen Fensterläden stoppt, zückt sie das Portemonnaie und mit der gleichen Handbewegung den Schlüssel. Das Schloss knarzt ein wenig, es müsste mal wieder geschmiert werden, leistet aber keinen Widerstand.
„Bitte schön, treten Sie ein!“, lädt Netty ihre Nachbarinnen förmlich ein.
„Hach, das ist aber toll! So urig!“, ruft Hannah beim Anblick der bunten Flickenteppiche, die überall verstreut auf den weißgestrichenen Holzdielen liegen. An den zartgelben Wänden hängen lauter bunte Kritzeleien, die Sören und Tjark gemalt haben. Es gibt drei kleine Schlafzimmer und einen Wohnbereich mit Küchenzeile. Hier steht auch der Ofen.
„Setzen Sie sich jetzt erst mal und ruhen sich aus! Wir sorgen dafür, dass es gleich warm wird“, Netty rückt einen altmodischen Ohrensessel vor den Ofen, den sie Linda anbietet. Sie wickelt der alten Dame eine Wolldecke um die Schultern und legt ihr ein Schaffell über die Beine.
Es ist sehr kalt im Haus, wenn die Räume auch klein und die getäfelte Holzdecke relativ niedrig ist.
Linda kuschelt sich dankbar ein und schaltet ihr Gehirn weiterhin aus. Nur keine Schuldgefühle!
„Kommen Sie mit, wir holen Holz aus dem Schuppen!“, fordert Netty Hannah auf.
Die junge Studentin ist froh, sich in der Kälte bewegen zu können. Sie trippelt sowieso schon unruhig auf den Zehenspitzen hin und her. Statt durch den verschneiten Garten zum Holzschuppen zu stapfen und dort in der Finsternis nach Holz zu suchen, könnte sie jetzt gemütlich im warmen Zuhause ihrer Eltern sitzen und sich verwöhnen lassen. Aber Hannah weiß noch immer nicht, warum. Sie ist froh, stattdessen hier zu sein.
Ihre Eltern hat sie angerufen und ihnen erklärt, sie käme noch nicht, da sie bei Freunden sei. Zwar etwas gelogen, aber ansonsten hätten sie sich unnötig Sorgen gemacht. Denn das tun sie andauernd. Viel mehr, als nötig.
„So ein Mist! Verdammt!“, flucht Netty laut.
Hannah zuckt zusammen. „Was ist los?“
„Das Schuppendach ist undicht. Das Holz ist feucht geworden.“
„Ist das so schlimm? Vielleicht brennt es trotzdem?“
„Ach was! Das würde nur qualmen.“ Netty fragt sich in dem Moment, wann ihr Glück sie eigentlich verlassen hat. Seit Tagen klappt einfach nichts mehr. „Gehen wir wieder rein!“
„Und was machen wir jetzt? Es ist drinnen echt kalt“, bemerkt Hannah überflüssigerweise und schlägt zur Demonstration ihren Mantelkragen höher.
„Der Nachbar! Er ist Förster und hat bestimmt jede Menge Holz gelagert.“ Netty guckt auf ihre Uhr. So spät schon! Gleichzeitig späht sie rüber zum Nachbarhaus, einem ähnlichen Holzhaus wie ihrem, nur eine Nummer größer. Auch der Garten ist weitläufiger, erstreckt sich hinten bis an den Wald heran. Der Nachbar sitzt quasi an der Quelle, was Holz betrifft. Ein kleines Licht meint sie, in einem der Fenster zu entdecken. „Es ist ja schon sehr spät. Und der Nachbar ist etwas ..., sagen wir mal, eigen ...“
„Ach, das ist doch eine Notsituation. Wir haben eine unterkühlte Frau da drinnen.“ Hannahs lange Beine hüpfen auf und ab, um sich aufzuwärmen. Sie schaut Netty aus großen braunen Kulleraugen an, ihre Wangen sind von der Kälte leicht gerötet. Sie sieht hinreißend aus.
„Am besten Sie gehen. Und schauen Sie ihn ruhig so bittend an, das wirkt ja vielleicht!“
Hannah
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