Schneemann
völlig verwischte Schrift zu lesen:
Wir werden sterben, Hure.
Rakel zuckte zusammen. Sah sich um. Aber sie war allein, rundherum nur geparkte Autos. Klemmten auch hinter anderen Scheibenwischern solche Zettel? Sie sah keinen. Das musste ein Zufall sein, es konnte doch niemand wissen, dass ihr Auto hier stand. Sie drehte die Scheibe ein Stückchen nach unten, schob den Zettel mit zwei Fingern nach draußen und ließ ihn fallen, während sie den Motor startete und losfuhr.
Kurz vor der Kuppe am Ullevälsveien hatte sie plötzlich das Gefühl, jemand sitze auf dem Rücksitz und starre sie an. Sie drehte sich um und sah das Gesicht eines Jungen. Nicht Oleg, sondern ein anderes, fremdes Gesicht. Sie bremste so abrupt, dass das Gummi auf dem Asphalt quietschte. Dann hörte sie wütendes Hupen. Dreimal. Sie starrte in den Spiegel, während sie nach Luft rang und das entsetzte Gesicht des Jungen im Wagen direkt hinter sich betrachtete. Zitternd legte sie den ersten Gang ein.
Eli Kvale stand wie angewurzelt im Flur und hielt den Telefonhörer noch immer in der Hand. Sie hatte sich das nicht eingebildet. Wirklich nicht.
Erst als Andreas zweimal ihren Namen rief, kam sie wieder zu sich.
“Wer war das?”, fragte er.
“Ach, niemand”, entgegnete sie. “Nur falsch verbunden.”
Als sie zu Bett gingen, wollte sie sich an ihn schmiegen. Aber sie konnte es einfach nicht. Konnte sich nicht überwinden. Sie war
unrein.
“Wir werden sterben”, hatte die Stimme am Telefon gesagt. “Wir werden sterben, Hure.”
KAPITEL 19
16. Tag. Fernsehen
Als sich die Ermittlungsgruppe am nächsten Tag versammelte, konnten sie sechs der sieben Namen auf Katrines Liste streichen. Nur ein Name war noch übrig.
“Arve Stop?”, platzten Bjorn Holm und Magnus Skarre im Chor heraus.
Katrine Bratt schwieg.
“Tja”, sagte Harry. “Ich habe eben mit Anwalt Krohn telefoniert. Er hat ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass uns Stop auf die Frage nach seinem Alibi keine Antwort geben wird. Und auch auf andere Fragen nicht. Wir können ihn einsperren, aber er hat das Recht zu schweigen. Und auf diesem Wege würden wir ja nur der ganzen Welt verraten, dass der Schneemann noch immer irgendwo dort draußen ist. Die Frage ist nur, ob Stop die Wahrheit sagt oder ob das Ganze nur Theater ist.”
“Aber so ein Superpromi als Mörder”, wandte Skarre ein und schnitt eine Grimasse. “Wer glaubt denn an so was?”
“O.J. Simpson”, antwortete Holm. “Robert >Baretta< Bleka. Phil Spector. Der Vater von Marvin Gaye.” “Wer zum Henker ist Phil Spector?”
“Sagt mir lieber, was ihr meint”, forderte Harry die Truppe auf. “Frei heraus, ganz spontan. Hat Stop etwas zu verbergen? Holm?”
Bjorn Holm rieb sich seine Koteletten. “Ich finde es schon verdächtig, dass er uns nicht sagen will, wo er war, als Vetlesen ermordet wurde.”
“Bratt?”
“Ich glaube, es macht ihm Spaß, verdächtig zu sein. Und seiner Zeitschrift schadet das überhaupt nicht, eher im Gegenteil, das fördert nur sein Outsiderimage. Der große Märtyrer des Widerstands.”
“Einverstanden “, erklärte Holm. “Ich wechsle die Seite. Er wäre dieses Risiko nicht eingegangen, wenn er wirklich schuldig wäre. Dann hätte er das Ganze als Exklusivmeldung gebracht.” “Skarre?”, fragte Harry.
“Er blufft. Das ist doch alles Unsinn. Oder hat vielleicht irgendeiner von euch dieses Gerede über die Presse und ihre Prinzipien verstanden? “
Keine Antwort.
“Okay”, sagte Harry. “Nehmen wir mal an, die Mehrheit hat recht und er sagt die Wahrheit. Dann sollten wir versuchen, ihn so schnell wie möglich als Verdächtigen auszuschließen, um weiterzukommen. Wissen wir von irgendjemandem, der zu diesem Zeitpunkt mit ihm zusammen gewesen sein könnte?”
“Kaum”, meinte Katrine. “Ich habe eine Bekannte angerufen, die bei Liberal arbeitet. Sie meinte, Stop unternehme außerhalb der Arbeitszeit nicht so viel. Er sei die meiste Zeit allein in seiner Wohnung, abgesehen von seinen Damenbesuchen natürlich.”
Harry sah zu Katrine hinüber. Sie erinnerte ihn an die übereifrige Studentin, die dem Dozenten immer ein Semester voraus ist. “Damen im Plural?”, hakte Skarre nach.
“Mit den Worten meiner Bekannten gesprochen, ist Stop der reinste Schürzenjäger. Sie hat ihn einmal abblitzen lassen und bekam gleich darauf zu hören, dass sie seinen Erwartungen als Journalistin nicht entspreche und sich vielleicht eine neue Stelle suchen solle.
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