Schneemann
beim Pokern bloß darum zu erkennen, wann der Gegenspieler blufft?”
Offensichtlich hatte Holzschuh gar nichts dagegen, den einleitenden Smalltalk einfach zu überspringen.
“Die Menschen glauben, dass es beim Pokern auf die Statistik ankommt, auf Gewinnchancen und Wahrscheinlichkeiten. Spielt man aber auf hohem Niveau, kennen alle Spieler ihre Chancen auswendig, weshalb sich der eigentliche Kampf nicht auf diesem Schlachtfeld abspielt. Was die Besten unterscheidet, ist die Fähigkeit, die Gedanken der anderen zu lesen. Als ich nach Las Vegas ging, wusste ich, dass ich gegen die Besten spielen würde. Und die konnte ich vorher im Gambiers’ Channel spielen sehen, den ich hier über Satellit empfange. Ich hab mir alles auf Video aufgenommen und jeden Einzelnen beim Bluffen studiert. Ich hab es in Zeitlupe ablaufen lassen, hab jede noch so kleine Bewegung in ihren Gesichtern kartiert, was sie so tun oder sagen. Ich hab mich so richtig reingehängt und kam immer auf irgendetwas, das sich wiederholte. Der eine kratzt sich kurz am rechten Nasenflügel, der andere streicht über die Rückseite seiner Karten. Dann bin ich rübergefahren und war sicher zu gewinnen. Leider hat sich herausgestellt, dass ich selbst noch mehr verräterische Signale an meine Mitspieler aussende.”
Holzschuhs bitteres Lachen klang fast wie ein Schluchzen und ließ den großen, unförmigen Körper zittern.
“Wenn ich einen Typ verhöre, kannst du dann sehen, ob er lügt?”
Holzschuh schüttelte den Kopf. “Das ist nicht so einfach. Erstens brauche ich das auf Video. Zweitens muss ich ihm in die Karten gucken können, damit ich weiß, wann er blufft. Erst dann kann ich zurückspulen und analysieren, was er anders macht. Das ist wie bei der Kalibrierung eines Lügendetektors, oder? Vor dem Test lässt man den Probanden etwas sagen, das ganz sicher wahr ist, zum Beispiel seinen Namen. Und dann etwas, das ganz offensichtlich gelogen ist. Dadurch hat man dann eine Art Karte, mit deren Hilfe man die Ausschläge lesen kann.”
“Eine ganz sichere Wahrheit. Und eine offensichtliche Lüge”, murmelte Harry. “Und das noch auf Video.”
“Aber wie ich schon am Telefon gesagt habe, ich garantiere für nichts.”
Harry fand Beate Lønn im “House of Pain”, dem Raum, in dem sie beinahe ihre gesamte Zeit verbracht hatte, als sie noch im Raubdezernat arbeitete. Das “House of Pain ” war ein fensterloses Büro, angefüllt mit Aufnahme- und Wiedergabegeräten, mit denen man Videos von Banküberfällen anschauen und redigieren, Bilder vergrößern und Menschen identifizieren konnte. Anhand von körnigen Bildern oder krächzenden Anrufbeantwortern. Doch jetzt war sie die Leiterin der Kriminaltechnik in Bryn und befand sich noch dazu im Mutterschutz.
Die Maschinen summten. Durch die trockene Wärme hatten sich die Wangen in ihrem ansonsten fast durchsichtig blassen Gesicht gerötet.
“Hallo”, grüßte Harry und ließ die Stahltür hinter sich ins Schloss fallen.
Die zierliche kleine Frau stand auf, und sie umarmten sich, beide etwas schüchtern.
“Du bist dünn”, stellte sie fest.
Harry zuckte mit den Schultern. “Wie läuft’s bei dir mit … allem?” “Greger schläft, wann er soll, isst, was er soll, und weint fast nie.” Sie lächelte. “Und das ist für mich zurzeit >alles<.”
Er sollte etwas über Halvorsen sagen. Um zu zeigen, dass er ihn nicht vergessen hatte. Aber die richtigen Worte wollten nicht kommen. Und als würde sie das verstehen, fragte sie ihn stattdessen, wie es ihm ging.
“Geht so”, antwortete er und ließ sich auf einen Stuhl fallen. “Ziemlich gut. Total beschissen. Kommt drauf an, an welchem Tag du fragst.”
“Und wie ist es heute?” Sie drehte sich zum Fernsehbildschirm, drückte auf einen Knopf, und schon liefen die Leute rückwärts auf einen Eingang mit der großen Aufschrift “Storosenteret” zu.
“Ich bin paranoid”, begann Harry. “Ich habe das Gefühl, jemanden zu jagen, der mich manipuliert. Alles ist irgendwie auf den Kopf gestellt, und ich tue vermutlich genau das, was er will. Kennst du das?”
” Ja”, erwiderte Beate. “Ich nenne dieses Phänomen Greger.” Sie stoppte den Spulvorgang. “Willst du sehen, was ich gefunden habe?”
Harry zog den Stuhl näher heran. Es war kein Geheimnis, dass Beate Lønn spezielle Fähigkeiten hatte. Ihr Gyrus fusiformis, der Teil des Hirns, in dem Gesichter gespeichert und identifiziert werden, war derart entwickelt und
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