Schneenockerleklat
Palinski erleichtert durch die Waggons, begrüßte die, die er noch nicht begrüßt
hatte, und stellte sich jenen vor, die ihn noch nicht kannten.
Die Spannung, die ihn seit heute Morgen gefangen gehalten
hatte, war jetzt völlig abgefallen. Noch – er blickte kurz auf seine Armbanduhr
– knapp drei Stunden, dann würden sie alle im ›Semmering Grand‹ angelangt sein.
Dort wartete bereits sein Assistent Florian Nowotny auf ihn, um ihn zu
entlasten.
Wilma, seine liebe Wilma, mit der er seit mehr als 26 Jahren
nicht verheiratet war und dennoch zwei Kinder hatte, würde erst morgen
nachkommen. Sie hatte heute Abend noch eine berufliche Verpflichtung
wahrzunehmen, ehe sie für den Rest der Woche freinehmen konnte.
Palinski passte das ganz gut ins Zeug. Nach den höllisch
anstrengenden und weitgehend schlaffreien letzten Tagen wollte er heute Abend
versuchen, früh ins Bett zu kommen. Da außer der informellen Get-together-Party
im ›Semmering Grand‹, mit der er nicht unmittelbar zu tun hatte, nichts auf dem
Programm stand, sahen die Chancen dafür recht gut aus.
Wohlig rekelte er sich im Geiste bereits auf den frischen,
nach Sauberkeit duftenden Linnen, als Sven Eglitz in sein Leben trat und seinen
Tagtraum zerstörte.
»Verzeihen Sie, Herr«, der junge Mann warf einen Blick auf
Palinskis Namensschild, »Palinski, ah, Sie sind es persönlich. Es ist mir eine
Ehre. Ich bin Sven Eglitz von der CEPA«, stellte er sich vor. »Darf ich Sie
etwas fragen?«
»Natürlich«, ermunterte Palinski den bebrillten Vollbartträger,
der ein eigenartiges Medaillon um den Hals trug und irgendwie weibisch damit
wirkte, »dazu bin ich ja da. Was wollen Sie wissen?«
»Stimmt es, dass Sir Peter Millfish auch auf den Semmering
kommen wird?« Millfish war eine legendäre Figur in der Welt der Kriminalisten
und Kriminologen. Innerhalb von nur knapp zehn Jahren hatte der charismatische
Herausgeber des Global Criminal Report (›GCR‹) aus einem unbedeutenden
Monatsmagazin eine der, nein, die weltweit führende Fachzeitschrift in diesem
Bereich gemacht. Allein die englischsprachige Auflage lag inzwischen bei mehr
als 525.000 Exemplaren. Und das 26 Mal im Jahr.
Klar, dass so ein Mann normalerweise auf keiner
Jahresversammlung der FECI hätte fehlen dürfen, schon gar nicht im
Jubiläumsjahr. Noch dazu war der GCR Großsponsor der Veranstaltung, darüber
hinaus hatte Sir Peter gerüchteweise auch privat einen namhaften Betrag zu den
nicht unbeträchtlichen Kosten des Mega-Events beigesteuert.
Aber so selbstverständlich war das bei dem kauzigen, sogar im
heimatlichen Blyth Valley in Northumbria kaum in der Öffentlichkeit
erscheinenden und auf seinem Landsitz in der Nähe von Cramlington total
abgeschirmt lebenden Sir Peter ganz und gar nicht. Nein, seine Teilnahme war
erst gestern Nachmittag völlig unerwartet und überraschend bekannt gegeben
worden.
Im Gegensatz dazu war der aus Lady Paulina, Andrea, Bridget
und Caroline bestehende weibliche Teil der Familie als ausgesprochen
kommunikativ und lebenslustig bekannt. Die Damen verbrachten den Großteil des
Jahres an einer noblen Londoner Adresse.
Nur zu verständlich, dass sich nun jeder Journalist um eines
dieser raren Interviews mit der Legende bemühte. Für einen jungen Mann wie
Eglitz konnte das die Chance für den beruflichen Durchbruch sein.
»Sir Peter Millfish und Familie werden erst morgen im Laufe
des Tages am Semmering erwartet. Er wird übermorgen nachmittags vor der
›Mörderischen Diskussionsrunde‹ zwei Stunden für Interviews zur Verfügung
stehen!«, teilte Palinski Eglitz mit. Dabei war er sichtlich bemüht, seinem
Gegenüber nicht direkt ins Gesicht zu blicken. »Sie sollten sich auf jeden Fall
schon in die Liste eintragen lassen, das Interesse an Interviews mit ihm ist
enorm!«
Der junge Journalist bedankte sich artig und ging.
Schade, dachte Palinski, das schien durchaus ein netter Kerl
zu sein. Und dann so ein Mundgeruch, äh.
Im nächsten Waggon traf Mario auf István Lalas, den Doyen der
ungarischen Journalisten, den er bereits von früheren Anlässen her kannte.
»Hallo Mario«, freute sich István. »Schön, wieder bei euch zu
sein. Du hast da ja eine großartige Sache organisiert!«, anerkannte er. »Sag,
hast du Kollegen Sven Eglitz gesehen? Laut Anwesenheitsliste soll er bei
unserem Haufen dabei sein!« Er lachte gutmütig.
»Lustig, dass du gerade jetzt nach ihm fragst. Ich habe ihn
eben
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