Schneerose (German Edition)
um
sie umzubringen.
Es ist eine
Last, die sie täglich aufs Neue dazu bringt, sich überwinden zu müssen, in die
Schule zu gehen. Einmal ist sie bereits wegen zu vieler Fehlstunden sitzen
geblieben. Wenn sie dieses Schuljahr wieder nicht schafft, schmeißt sie die
Scarborough Grammar School endgültig raus. Und wenn sie von der Schule fliegt,
fliegt sie auch Zuhause raus. Daran hat ihr Vater keinen Zweifel gelassen. Es
interessiert ihn nicht, warum sie nicht zur Schule geht, er verlangt nur, dass
sie hingeht. Sie muss nicht mal gut sein, sondern soll nur bestehen. Oft sagt
er, dass ihm seine Arbeit auch keinen Spaß machen würde, aber er trotzdem
hingehen müsse. Doch das fällt Lia schwer zu glauben, wenn sie sieht, wie oft
ihr Vater beruflich unterwegs ist. Die Stunden, die er in der Woche daheim
verbringt, kann sie an einer Hand abzählen.
„Hast du ihre
Augenringe gesehen?“, tönt es von der Bank vor ihr, wobei Tracy eine ihrer
blonden Locken um ihre in grellem Pink lackierten Fingernägel wickelt. Eine
Duftwolke ihres zu starken Parfüms weht zu Lia und lässt ihre Augen brennen.
„Sie sieht aus
wie 40“, gibt Tracys Busenfreundin Sarah zurück und schielt dabei abfällig über
ihre Schulter zu Lia, die schnell den Kopf senkt und so tut, als würde sie sich
auf ihre Notizen konzentrieren, obwohl ihr Blatt leer ist. Das Parfüm ist so
stark, dass ihr Kopf zu schmerzen beginnt.
„Verdammter
Psycho! Die Typen wollen die doch auch nur für das Eine!“, zischt Tracy mit
einem herablassenden Lächeln und einem triumphierenden Blick auf Lia. Sie weiß
ganz genau, dass Lia sie hören kann. Erst das gibt ihr den Kick.
Für einen Moment
ist es still und Lia hofft bereits, dass es das für heute an Lästereien war,
während sie gegen das Engegefühl in ihrer Kehle anschluckt. Doch da ergreift
Sarah wieder das Wort. Verzweifelt hat sie die ganze Zeit nach einem Punkt
gesucht, mit dem sie Tracy erneut für sich begeistern kann.
„Guck mal, wie
rissig ihre Lippen sind. Wer weiß was sie damit die halbe Nacht wieder gemacht
hat. Was für eine Schlampe!“
Zufrieden stellt
Sarah fest, dass es funktioniert hat. Tracy kichert.
„Mit der wollte
doch eh keiner richtig zusammen sein. Die ist doch total verbraucht.“
„Wer weiß, was
man sich bei der für Krankheiten holt!“, stimmt Sarah sofort eifrig nickend zu.
„Never
cared for what they say
Never
cared for games they play“
Es klingelt zur
Pause. Während alle anderen erleichtert aufspringen und aus dem Klassenzimmer
stürzen, bleibt Lia still sitzen. Erst als der letzte ihrer Mitschüler den Raum
verlässt, beginnt sie, ihre Schulunterlagen unter dem strengen Blick von Mr.
Attkins zusammenzupacken.
„Liandra,
brauchen Sie wieder eine Extraeinladung?“, drängt der Lehrer sie mit seiner
nörgelnden Stimme.
„Ich habe nur
noch meine Notizen zu Ende geschrieben.“, nuschelt Lia leise vor sich hin, ohne
Mr. Attkins dabei anzusehen.
„Das wage ich
doch zu bezweifeln. Mit den Knöpfen in den Ohren bekommen sie doch gar nichts
von meinem Unterricht mit.“ Er macht eine theatralische Pause und wartet darauf,
dass Lia endlich ihre grünen Augen auf ihn richtet, damit er sich ihrer
ungeteilten Aufmerksamkeit sicher sein kann.
„Ich erwarte
nicht, dass Sie mein Unterricht interessiert, aber es wäre nett, wenn Sie aus
Respekt mir gegenüber wenigstens so tun würden. Wir wissen beide, dass
Geschichte nicht gerade Ihr bestes Fach ist.“
„Ja, Mr.
Attkins“, antwortet Lia kleinlaut und setzt ein entschuldigendes Lächeln auf,
womit sie jedoch bei dem Lehrer auf Granit beißt.
„Mit so einer
Einstellung sehe ich schwarz für die Versetzung.“
Lia nickt nur
und eilt aus dem Zimmer, so schnell wie möglich weg von Mr. Attkins.
Auf dem Flur wird sie bereits ungeduldig von ihren
beiden besten Freunden Lindsay und Mike erwartet . Ursprünglich waren sie in einer Klasse, doch das hat
sich geändert seit Lia letztes Jahr sitzen geblieben ist.
„Wenn du immer
so lange brauchst, dann werden wir nie einen besseren Platz in der Cafeteria
ergattern. Willst du für immer neben den Mülltonnen sitzen?!“, beschwert sich
Lindsay bei ihr und läuft, ohne eine Antwort abzuwarten, mit eiligem Schritt
voraus. Mike hingegen tätschelt Lia sanft die Schulter und mustert sie mit
besorgtem Blick durch seine dicke Hornbrille.
„War wieder
irgendetwas mit den anderen?“
Zur Antwort
schüttelt Lia mit hängenden Schultern den Kopf. Es ist jeden Tag
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