Schneerose (German Edition)
seinem mittlerweile
Jahrhunderte überdauernden Leben musste er sich die Frage stellen, wie er die
Aufmerksamkeit einer Frau erregen könnte. Es war immer ein Kinderspiel gewesen,
vollkommen belanglos. Nicht im Traum hätte er geglaubt, je in seinem Dasein
auch nur einmal noch auf eine Herausforderung zu stoßen, die eine Frau ihm
stellt. Doch der Begriff ‚Frau’ wird ihr nicht gerecht. Sie ist nicht wie die
anderen. Sie ist wie ein funkelnder Diamant unter grauen Kieselsteinen. Diese
oder keine, das steht zumindest für die heutige Nacht fest.
Wenn er nicht
auf sie zugeht, dann wird sie ihn nie bemerken, so viel ist Orlando klar. So
zerbricht er sich fieberhaft den Kopf darüber, was er nur zu ihr sagen könnte,
um sie für sich zu gewinnen. Wie lächerlich! ER, der fünf Frauen an jedem
Finger seiner beiden Hände haben könnte, muss sich Gedanken darüber machen, wie
man eine Frau anspricht. Doch auch wenn in seinem Kopf ein Gedanke den anderen
überschlägt, sind seine Schritte fest und selbstsicher, als er die Tanzfläche
betritt und zielstrebig die schöne Fremde ansteuert.
Nur für einen
Augenblick bleibt er außerhalb ihres selbstgebildeten Tanzkreises stehen, den
bisher niemand zu betreten gewagt hat, und sieht fasziniert dabei zu, wie ein
Schweißtropfen von ihrem Nacken an ihrer perfekt geformten Wirbelsäule entlang
hinab in die Wölbung ihres Pos fließt. Wie gern würde er ihm mit seinem Finger
Einhalt gebieten. Kaum, dass er ihr Revier betritt, wirbelt sie zu ihm herum,
so als wolle sie empört erfahren, wer es wagt, in ihr Reich einzudringen. Jeder
Satz, den er sich auf der Zunge zurecht gelegt hat, ist vergessen. Das Strahlen
ihrer Augen hätte ihn selbst am anderen Ende des Raums noch wie vom Blitz
getroffen, aber aus so unmittelbarer Nähe macht es ihn schlicht und einfach
sprachlos. Wie ein Trottel, der er selbst zu seinen Lebzeiten nie war, steht er
da und starrt sie an, schafft es einfach nicht, seine Augen von ihr abzuwenden,
WILL seine Augen nicht abwenden. Ihr intensiver Blick, welcher geradewegs auf
ihn gerichtet ist, würde sein Blut zum Kochen bringen, wenn dazu noch die
Möglichkeit gegeben wäre.
Er weiß nicht,
ob sie einander minutenlang betrachten oder ob es nur Sekunden sind, aber als
sie an ihm vorbeistreift und die Tanzfläche verlässt, liegt der Duft von süßen
Erdbeeren in der Luft. Begierig, die Luft zu inhalieren, schnappt er danach wie
ein Ertrinkender und fährt herum, um zu sehen, wie sie gerade den Club durch
den Hintereingang verlässt. Es gibt kein Halten mehr, als sein Körper sich
vorbei an all den verschwitzen Leibern zum Ausgang drängt. Er konzentriert sich
auf ihren süßen Geruch und das rhythmische Klappern ihrer Absätze auf dem
Kopfsteinpflaster und folgt ihr durch die schmalen Gassen der Bar Street. Unter
bunten Neonschildern drängen sich die Feiernden zusammen und laden ihn ein,
ihnen beizutreten, doch er ist wie berauscht von dem fremden Duft. Ein Taxi
fährt gerade vom Eingang der überfüllten Bar Street, Ecke South Bay, ab. Die
blonde Mähne, welche aus dem Fenster weht, reicht ihm als Beweis, um die
Verfolgung aufzunehmen. Begleitet von einem verärgerten Hupen tritt er mitten
auf die befahrene Straße der Vergnügungsmeile und springt in das nächste Taxi,
das er so zum Anhalten gezwungen hat. Dass es bereits besetzt ist, spielt unter
Einsatz eines 50£-Scheines keine Rolle mehr.
„Folgen Sie dem
Taxi“, ist das Einzige, was er vor lauter Aufregung wie elektrisiert hervor
bringt. Die Autos gleiten durch den spärlichen Stadtverkehr des Hafens von
Scarborough, in dem sich bunt beleuchtete Motorboote neben Segelschiffen
tummeln. Vorbei an den leuchtenden Werbereklamen der Fast Food Ketten,
Discounter, Souvenirshops und Modeboutiquen am Strand. Das Leben floriert, doch
davon bekommt Orlando nichts mit. Ihn interessiert nur, so nah wie möglich an
dem Taxi vor ihnen zu bleiben. Schon bald biegen sie von der South Bay mit den
eng aneinander stehenden kaminroten Steinhäusern in eine der teureren
Wohngegenden ab. Voller Erstaunen erkennt er nach wenigen Häusern, dass es sich
um die Manor Road handelt, an deren Ende sich der italienische Garten
erstreckt, in dessen Mitte Moundrell Manor thront, sein derzeitiges Zuhause.
Ihm stockt der Atem, als er die schlanken Beine der kühlen Blonden aus dem Taxi
huschen und durch ein Tor in einer von Tannen bewachsenen Auffahrt verschwinden
sieht.
„Stop!
Anhalten!“, schreit er sofort alarmiert und
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