Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
den Fall trotzdem gelöst, wobei Ohayon auf eine Weise über sich hinausgewachsen war, die Roland ihm niemals zugetraut hätte. Während dieses Falls mit der Lehrerin hatte sich zwischen ihm und Ohayon eine Art Freundschaft gebildet, ein großes Vertrauen, das allerdings nur während der Arbeitszeit bestand. In ihrer Freizeit trafen sie sich nie.
Zwei Dinge waren in sechzehn Jahren Dienst nie geschehen: Sie hatten sich nie mit quietschenden Reifen quer vor ein Fluchtfahrzeug gestellt, und Roland Colbert hatte noch nie eine Tür eingetreten. Überhaupt herrschte in Fleurville selten Eile. »Ein Kommissar rennt nicht!«, hatte Roland einmal gesagt. Und Sergeant Ohayon hatte ihm recht gegeben.
Seine Karriere? Er hatte es nie nach Paris geschafft, war in Fleurville hängen geblieben. Viehdiebstähle, Einbruchserien, Autohehler. Ganz selten so was Großes wie Mord. Dann war er Chef der Polizeistation von Fleurville geworden. Vor vier Jahren hatte er ein Reihenhaus gekauft, für sich und Sina. In Saint Mouron wohnte er jetzt, dreißig Kilometer westlich von Fleurville. Weiter war er nicht gekommen. Aber so lernte er immerhin Juliet kennen. Einfach, weil sie … seine Nachbarin war, weil sie gut aussah, kultiviert und … Nein, so einfach war es dann doch nicht.
Natürlich! Die Gründe, warum ihn bestimmte Frauen anzogen … der Beginn, der kraftvolle Startimpuls, war noch immer der Gleiche. Und noch immer nannte er dieses unbedingte Wollen Gefühl. Aber bei Juliet war dann mehr daraus geworden. Das hing damit zusammen, dass Juliet ihm unerklärlich blieb, dass sie ihm widerstand und sich nie ganz zu erkennen gab. Auch nach drei Jahren wusste er längst nicht alles über sie. Juliet hatte ihn also ordentlich durchgemischt, alles noch mal neu justiert. Zum Beispiel existierte Paris auf einmal nicht mehr. War von der Landkarte verschwunden, gewissermaßen. Ja, so was kommt vor! Ein Mann lernt eine Frau kennen, und eine Stadt verschwindet. Spurlos.
Und Mord? Diese unglaubliche Zuspitzung? Die großen Momente plötzlicher Eingebung, die zur Lösung führen? Ja, natürlich! Auch das war vorgekommen. Drei Mal in sechzehn Jahren Dienst.
So ging er also ruhig auf die vierzig zu. Aber noch nicht ganz ruhig! Denn er ist sich eigentlich ziemlich sicher, dass Juliet Kinder haben will. Siebenunddreißig ist sie jetzt. Und weil sie und Sina sich so gut verstehen, weil er sich ausgerechnet bei Juliet, einer Frau, die doch so unvorhersehbarist, weil er sich ausgerechnet bei ihr sicher ist, dass sie nicht durchdrehen wird, fand er neuerdings, dass seine Familie noch wachsen könnte.
Dass seit einigen Tagen nichts mehr so ist, wie er meint, kann er nicht wissen.
Juliet hat sich bis jetzt noch nicht dazu durchringen können, mit ihm darüber zu sprechen. Einfach, weil sie selbst nicht weiß, was das mit ihr macht. Seit zwölf Jahren arbeitet sie jetzt in einem Schulbuchverlag. Auch sie ist sich sicher, inzwischen eine feste Position erreicht zu haben. Doch letzte Woche hat der Chef ihres Verlags, Monsieur Chevrier, sie in sein Büro bestellt.
»Juliet, ich habe dich zu mir gebeten, weil ich es für geboten halte …« Monsieur Chevrier spricht so. Er mag das, dieses Förmliche. Er trägt gerne dunkelblaue Anzüge und sein Haar wird grau und licht. Leider. Dabei war er als Student angeblich recht ansehnlich. »… weil ich es für geboten halte, dich von Veränderungen so frühzeitig in Kenntnis zu setzen, dass du dich darauf einstellen kannst. Du arbeitest jetzt seit zwölf Jahren für uns«, da war Juliet schon schlecht geworden, »und wir waren immer mit dir zufrieden. Ich glaube, du weißt das.« Monsieur Chevrier machte eine Pause, sie schwieg. »Aber wie du weißt, werden sich bei uns einige Dinge ändern müssen. Das elektronische Buch wird sich jetzt wohl doch durchsetzen und … Kurz, wir stehen vor größeren Umstrukturierungen und vielen damit verbundenen Unwägbarkeiten.« Sie senkte den Kopf und konzentrierte sich vollständig auf das Muster des Teppichs. »Deshalb schon jetzt diese Vorankündigung. Ich ziehe in Erwägung, dass du ab März nächsten Jahres die Leitung der Abteilung übernimmst, in der du zur Zeit arbeitest. Das bedeutet mehr Einkommen, erheblich mehr Entscheidungsfreiheit … Aber auch ein Mehr an zeitlichem Aufwand. Es ist bis jetzt nur eine Überlegung. Ich wollte dich trotzdem rechtzeitig in Kenntnis setzen. Ich hoffe, du freust dich.«
Und wie sie sich gefreut hat! Ihr Kopf brauste förmlich!
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