Schneesterben
aus Beton und Holz gebaut, und ansonsten dominierte in der fraglichen Gegend schwarzer Schiefer. Dort pflegten keine Ziegelsteine herumzuliegen. Aber man hatte bei der Kripo ja noch nicht einmal ernsthaft in Erwägung gezogen, daß Hansen Opfer eines Verbrechers geworden sein könnte, nachdem man irgendwelche Terroristen glaubte ausschließen zu können. Die Diagnosen »Verletzung bei Sturz«, danach »Tod durch Erfrieren« und schließlich »Fraßschäden wilder Tiere« waren einleuchtend und machten wenig Arbeit. Wenn nicht Kriminalhauptkommissar Gregor Kosinski, der alte Fuchs, die Schäden an Krista Reglers Auto aufschlußreich gefunden hätte und wenn er nicht systematisch auf die Suche gegangen wäre nach einem Verletzten oder gar Toten, der zu den Spuren am Auto paßte – und wenn er nicht die Meldung von Hansens Tod in der Zeitung gelesen und eins und eins zusammengezählt hätte, dann wäre Michael Hansen sang und klanglos begraben worden. Ein Fall mehr in der Reihe der vielen unaufgeklärten Straftaten in Hessen.
Karen verfluchte zum zigsten Mal ihre Rolle als menschliche Aktenrotationsmaschine. Die Staatsanwaltschaft war laut Gesetz »Herrin des Verfahrens«. Eine schöne Sache. In Wirklichkeit hing alles ab von der Qualität der vorhergegangenen Ermittlungsarbeit . Wenn man es sich einfach machen wollte als Staatsanwalt, nahm man hin, was einem auf den Schreibtisch gelegt wurde, und fragte nicht weiter.
Nicht mit mir, dachte Karen. Herrin ist Herrin.
Am Ende der Baustelle war sie wie ein Blitz wieder auf der linken Spur und gab Gas. Das Auto reagierte sofort. Sie genoß die Erregung, die ein starker Motor und ein ordentliches Ermittlungsfieber in ihr auszulösen vermochten.
Weiter im Text. Es hatte in der Tatnacht geschneit. Daß sich ein für eine solche Tat geeigneter Stein zufällig finden ließ, wurde damit noch unwahrscheinlicher. Hatte Thomas Regler den Ziegelstein mitgebracht? Vielleicht, weil er ihn immer bei sich trug – als Erinnerung?
Die Vorstellung war gruselig. Im letzteren Fall hätte er vorsätzlich, aber womöglich im Affekt gehandelt. Im ersten Fall aber hätte er geplant gehandelt, nicht im Affekt, nicht mit bedingtem Vorsatz. Das war Mord.
Und…
Die Schlußfolgerung lag auf der Hand. Angenommen, Regler hatte die Tatwaffe extra mitgenommen, um Hansen zu erschlagen, dann hätte er ebenso vorsätzlich einen Zusammenhang hergestellt zur Tat, die er als Jugendlicher begangen hatte. Dann wollte er mit der Tatwaffe etwas demonstrieren. Aber an wen war die Botschaft gerichtet? Nicht an Michael Hansen. Der war tot.
Sie nahm den Fuß vom Gas. Nichts stimmte an ihrer Argumentation, gar nichts. Vielleicht hatte die Liebe sie bereits blind und dumm gemacht. Denn Regler hätte sich verdammt beschränkt angestellt für einen Mörder mit Vorsatz, der sogar die Tatwaffe parat hat. Warum erst den Mann überfahren und ihn dann erschlagen? Und wenn der Täter aller Welt etwas demonstrieren wollte, warum dann so subtil, daß es ohne das beharrliche Nachfragen von Edith Manning nicht herausgekommen wäre?
Karen schlug frustriert mit der Hand gegen das Lenkrad. Nichts stimmte. Einerseits ein symbolischer Akt, der etwas zeigen soll, andererseits Vertuschungsabsicht – das paßte nicht zusammen.
Sie kam nicht weiter. Gunter. Sie mußte mit jemandem sprechen. Aber sein Mobiltelefon war ausgeschaltet, und sie hatte keine Lust, ihm eine Botschaft aufzusprechen – jedenfalls nicht etwas ähnlich Uninspiriertes, obzwar Wahrheitsgetreues wie: Hilf mir, ich bin vor Liebe am Verblöden.
Sie fuhr immer langsamer, während ihre Gedanken kreisten. Und suchten. Der BMW-Fahrer von vorhin überholte sie und schüttelte mißbilligend den Kopf. Und endlich meldete ihr Gehirn eine Einsicht. Oder eine Erkenntnis. Sie war so schlicht, wie man es sich nur wünschen konnte, wenn man nicht weiter weiß.
Das alles paßte nicht zu Thomas Regler. Die Tat war dem Täter nicht zuzutrauen.
Sie sah sein melancholisches Gesicht vor sich. Die großzügige Nase, die dunklen, dunkelblauen Augen. Sie dachte an seine vorsichtige, zurückhaltende Art. Das, was über ihn als Arzt ausgesagt wurde. Ein solcher Mann trägt nicht für den Fall des Falles einen Stein bei sich, der ihn an etwas erinnert, was er lieber vergessen würde.
An etwas, das er nicht mit sich verbindet. Das ihm fremd ist, fern ist. Thomas Regler war nicht mehr Peter Bachmann.
Sie war sich dessen sicher. Es gibt keine menschliche Identität, in die sich alles
Weitere Kostenlose Bücher