03 - Saison der Eifersucht
Erstes Kapitel
Solch einen pikanten Skandal hatte das
kleine verschlafene Dorf Upper Marcham noch nie erlebt.
Der Witwer Sir
Benjamin Hayner, einer der Honoratioren des Ortes, war gestorben und hatte die
Verwaltung seiner ausgedehnten Güter und seines gesamten Vermögens einer
verarmten Dame aus gutem Hause, Harriet Metcalf, anvertraut. Miss Metcalf
sollte die besagten Güter und das Vermögen verwalten, bis Sir Benjamins
Zwillingstöchter, Sarah und Annabelle, einundzwanzig Jahre alt wurden. Die
Zwillinge waren nämlich erst achtzehn. Harriet Metcalf war allerdings selbst
auch nicht älter als gerade fünfundzwanzig.
Sir Benjamin war
mit Harriets Eltern eng befreundet gewesen, und nach deren Tod hatte er Harriet
oftmals nach >Chorley Hall<, seinem stattlichen Wohnsitz, zum Dinner
eingeladen.
Aber kein Mensch -
und am wenigsten seine zahlreichen Verwandten - hätte erwartet, dass er
die Kontrolle über seine Hinterlassenschaft einem jungen Mädchen wie Harriet
anvertrauen würde.
Die Tatsache, dass
die Zwillinge an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag selbst über alles verfügen
konnten und Harriet dann von einem winzigen Einkommen aus einer
Familienstiftung leben musste, machte den Ärger nicht geringer.
Schließlich war
Harriet Metcalf eine Abenteurerin und eine Dirne, man brauchte sie doch nur
anzuschauen.
Ihr fülliges
blondes Haar türmte sich wie eine dicke Wolke auf ihrem Kopf, und sie hatte
riesige tiefblaue Augen. Ihre dunklen Augenbrauen waren schmal und geschwungen
und ihre Wimpern lang und pechschwarz. Blonde waren nicht in Mode. Aber das war
es nicht, was sie verdächtig machte.
Ihre Figur war
geschmeidig und verführerisch. Sie hatte ein liebevolles Gemüt, aber die Leute
im Dorf und die Verwandten behaupteten, dass jemand mit einer solchen Aura
von Sinnlichkeit gar nichts anderes sein konnte als moralisch verwerflich. Sir
Benjamin war ein gutaussehender Mann gewesen. Der Klatsch blühte und gedieh,
als die Dorfbewohner ihre Vermutungen über die Beschaffenheit von Miss Metcalfs
Beziehungen zu dem verstorbenen Sir, Benjamin Hayner anstellten. (Lady Hayner
war bei der Geburt der Zwillinge gestorben.)
Bisher war Harriet
respektiert und sehr beliebt gewesen.
Dass den Verwandten
die Trauben zu sauer waren, war zu erwarten gewesen, aber mit den
Verdächtigungen und Feindseligkeiten der Dorfbewohner hatte Harriet nicht
gerechnet, und sie verletzten und verwirrten sie.
All die Gerüchte
stammten von den Zwillingen selbst. Sie waren eifersüchtig auf Harriet und so
überzeugt davon, dass ihre Geschichten wahr seien, dass ihre üblen Nachreden
durchaus glaubwürdig klangen. Sarah und Annabelle gingen bei der Verbreitung
des Klatsches sehr umsichtig zu Werke, und niemand kannte die Quelle der
Verleumdungen - am wenigstens Harriet, die die Zwillinge vergötterte und
es als große Ehre betrachtete, dass sie ihr anvertraut waren, wenn auch nur für
wenige Jahre.
Sir Benjamin hatte
in seinem Testament verfügt, dass Harriet mit den Zwillingen nach London reisen
sollte, um sie dort in die Gesellschaft einzuführen, und wenn sie während ihrer
ersten Saison keinen Mann »abbekämen«, dann sollte sie sie ein zweites Mal
präsentieren.
Die Beerdigung Sir
Benjamins fand an einem bitterkalten Dezembertag statt. Harriet hatte danach
mindestens zwei Wochen lang geweint, doch der Wunsch, das Beste für ihren alten
Freund zu tun, hatte sie bewogen, ihre Tränen zu trocknen und darüber
nachzudenken, wie sie die Mädchen in London groß herausbringen könnte.
Harriet lebte in
einem Cottage am Rande des Dorfes. Es war klein, malerisch, Tudor und feucht.
Bis zu ihrem siebzehnten Lebensjahr hatte sie mit ihren Eltern in >The
Grange<, einem hübschen Haus im Queen-Anne-Stil, westlich des Dorfes
gelebt. Das Leben war angenehm und ihre Zukunft gesichert. Es verstand sich von
selbst, dass man Harriet in einen vornehmen Kurort mitnehmen würde, um sie dort
in die Gesellschaft einzuführen und einen Gatten für sie zu finden, der mehr
Wert auf Lebensstil als auf Geld legte. Mr. und Mrs. Metcalf bildeten sich viel
auf Ihren eleganten Stil ein. Mr. Metcalf pflegte oft zu sagen, die Metcalfs
könnten ohne weiteres Herzöge oder Grafen sein, wenn sie Titel nicht für vulgär
hielten. Harriet fand den Snobismus ihrer Eltern nie auch nur im geringsten
sonderbar. Da sie ohnehin nicht besonders zu Kritik neigte, liebte und
gehorchte sie ihren Eltern und konnte gar nicht verstehen, warum ihre
Gespräche, Kleider und Umgangsformen
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