Schneesterben
heraus, schien in sich hineinzumurmeln und warf den Gegenstand ins offene Grab.
Ein Stofftier, hatte Karen gedacht. Ein Teddybär, behauptete Edith. Irgend etwas jedenfalls, das man vielleicht toten Kindern mitgibt, nicht aber einem gestandenen Arzt. Dann breitete die Frau die Arme aus und schickte einen lauten Schrei gen Himmel – wie ein bestelltes Klageweib.
Verrückt, hatte Karen gedacht. Die Alte ist verrückt. Als sie am Grab ankamen, hatte die Frau sich bereits umgedreht und ging mit schnellem Schritt zum Eingang zurück.
»Wer war das?« hatte sie den Mann gefragt, der sich als Max Postel vorstellte, Gefängnispfarrer.
Postel schien darüber erstaunt zu sein, daß weder sie noch Edith Manning die Frau kannten. »Seine Mutter.«
»Also – Frau Regler?«
Postel zuckte die Schultern.
»Und wo ist Krista Regler?«
»Sie wollte kommen«, sagte Postel. Er wirkte angegriffen. »Ich wollte ihr sagen – er war in Ordnung, ihr Mann. Thomas Regler war in Ordnung.«
Was für ein Nachruf, hatte Karen noch gedacht und einem Friedhofsgärtner hinterhergesehen, der welke Kränze auf der Schubkarre abtransportierte.
Krista Regler war nicht gekommen. Und sie hatte die kleine Szene auf dem Friedhof längst vergessen gehabt – bis heute morgen.
Gunter schlief noch, sie trank einen Espresso in der Küche, in der die Sonne den Strauß aus tiefroten Pfingstrosen und hellrosa Rittersporn aufleuchten ließ. Auf der ersten Seite der BILD fletschte der neueste Fall von präseniler Erotomanie die Zähne. Der alternde Schauspieler Günther G. ließ sich mit einem etwa vierzig Jahre jüngeren polnischen Busenwunder abbilden.
Sie suchte nach ihrem und Gunters Horoskop (»der nahende Vollmond stimmt Sie romantisch«), überflog den Artikel, in der sich ein TV-Star zu Kokain und Orgien mit rumänischen Nutten bekannte, überschlug die Sportseiten und blätterte sich zur Regionalausgabe der BILD vor. Sie mußte sekundenlang auf Schlagzeile und Bild gestarrt haben, bevor sie begriff, was sie sah. »Feuertod auf Hochzeitsfeier«, darunter das Foto eines Körpers, der sich in einem Flammenmeer wand. Und daneben – das Bild einer Frau. Es war die Frau, die der Gefängnispfarrer Thomas Reglers Mutter genannt hatte.
Die Mutter von Thomas Regler war tot. Sie hatte sich mit Benzin übergossen und angezündet. Und sie hieß nicht Regler.
»Was ist los?« Gunter war auf nackten Füßen in die Küche gekommen und hatte sie auf den Nacken geküßt. Beim Gedanken an ihn nahm sie den Fuß vom Gas. War es eigentlich erlaubt, so glücklich zu sein?
Sie hatte ihm das Blatt gegeben. »Frau verbrennt sich auf dem Kirchplatz zu Waldburg.« Sein Gesicht spiegelte, an was er in diesem Moment gedacht haben mußte: an verkohlte Leichen auf dem Seziertisch, die die Hände nach ihm reckten, in der Fechterpose, in die sie von kontrahierten Muskelsträngen gezwungen werden. An aufgeplatzte Schädel, an freigelegte Gebisse.
Sie hatte seine Hände zwischen ihre genommen und ihm fest in die Augen gesehen. »Es ist nicht dein Fall, hörst du? Das ist mein Revier.« Es hatte ein paar tiefe Atemzüge gedauert, bis er sich entspannte.
Die Frau, stand in der Zeitung, war 62 Jahre alt, wohnte in Rottbergen, gab ihren Beruf mit »Astrologin« an und hieß Sophie Bachmann. Sie war die Mutter von Peter Bachmann, dem Jungen, der 1979 den kleinen Martin Brandt erschlagen hatte. In einer Tunnelanlage, in der man nach Kriegsende den Eisenbahnzug des Führers gefunden hatte.
Und wenn Sophie Bachmann die Mutter von Thomas Regler war… Wenn der Gefängnispfarrer sich nicht irrte… Dann gab es keine andere Schlußfolgerung als die eine:Thomas Regler war Peter Bachmann.
Seither versuchte sie, die Bilder in ihrem Kopf zu sortieren, zu verschieben und wieder neu zusammenzusetzen, wie in einem Kaleidoskop. Manches Puzzlestückchen fiel plötzlich an den Platz, an den es paßte. An anderen Stellen klaffte eine Lücke, wo zuvor Gewißheit war. Es gab in der Sache Thomas Regler in der Tat Ermittlungsbedarf – und wie.
»Du wirst mir irgendwann erzählen, was das alles zu bedeuten hat«, hatte Gunter leise gesagt und ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen, mit einer Zärtlichkeit, an die sie nicht denken konnte, ohne daß ihr die Knie weich wurden. Und dann hatte er verlegen gelächelt, ein schiefes, kleines Lächeln, das allen Ermittlungseifer für Sekunden außer Kraft setzte.
»True love can wait.«
47
Klein-Roda – Waldburg
I ch kenne Jens, er ist ein
Weitere Kostenlose Bücher