Schneesterben
halbleere Flasche Bier vom Couchtisch. Kosinski sah gebannt zu, wie sie die Hand wieder fallen ließ, hinunter zum Bierkasten, mit einer frischen Flasche wieder hochkam und den Verschluß aufschnappen ließ.
In der Küche roch es nach kaltem Fett und Angebranntem. Neben dem Abfalleimer stapelten sich die Pappschachteln vom Pizzaschnelldienst. Kosinski ließ Gümüs die Treppe zum ersten Stockwerk vorausgehen. Hier waren offenbar das eheliche Schlafzimmer, das Bad und ein Raum, der das Zimmer von Jens Peters sein könnte. Es roch ungelüftet und nach gebrauchter Wäsche. An der Wand hing ein Eintracht-Poster und eins von Shakira. Davon abgesehen war die Einrichtung typisch für Jugendzimmer vergangener Jahrzehnte, nichts, keine Bücher, keine CDs, keine Videos, deutete darauf hin, daß hier ein 23jähriger von heute wohnte. Im Regal lagen Kuscheltiere und Spielsachen, die zu einem Kleinkind gepaßt hätten. Gümüs inspizierte den Kleiderschrank. »Hier«, sagte er. Kosinski sah hinüber. Auf den unteren Regalbrettern stapelten sich Kindersachen.
Kosinski sah Gümüs mit hochgezogenen Augenbrauen an. Der schüttelte langsam den Kopf. Als sie draußen standen, machte der Kriminalhauptkommissar die Tür sanft hinter sich zu. Er störte nur ungern die Intimsphäre eines Menschen – auch dann, wenn eine Behausung so wenig intim zu sein schien wie diese hier.
Im Wohnzimmer plärrte der Fernseher. Gümüs rief »Auf Wiedersehen und vielen Dank auch«. Sie sahen den Kopf der Frau nicken, ihre Hand schien zu winken. Dann fiel die Haustür hinter ihnen zu.
48
Auf dem Weg nach Klein-Roda
V or der Baustelle stockte der Verkehr. Karen Stark nutzte das Stop and go, um sich zu konzentrieren. Was war ihr entgangen? Über Thomas Reglers Vergangenheit war nichts aktenkundig gewesen. Sie rechnete nach. Die Vorstrafe mußte längst aus allen Registern getilgt sein, sofern sich Regler oder Bachmann nach der Entlassung nichts hatte zuschulden kommen lassen. Und die Namensänderung? Man mußte damals die Drohungen von Seiten der Familie des Opfers ernst genommen haben und hatte Schutzmaßnahmen für die beiden Täter angeordnet. Gefahrenabwehr durch Wechsel der Identität lag im Aufgabenbereich der Polizei, darüber stand ebenfalls nichts in den Gerichtsakten zum Fall Brandt. Und niemand hatte während der ersten Ermittlungen in Sachen Hansen/ Regler einen Anlaß gehabt, beim Standesamt nachzufragen – wie sollte denn einer auf die Idee gekommen sein, einen möglichen Namenswechsel in Betracht zu ziehen?
Eines jedenfalls schien klar: Der Fall Thomas Regler und der Fall Michael Hansen mußten aus einer neuen Perspektive betrachtet werden. Was, wenn nicht Eifersucht das Motiv des Verbrechens an Michael Hansen war, sondern die Vergangenheit? Wußte Krista Regler von der Vorstrafe ihres Mannes? Hatte sie ihrem Liebhaber davon erzählt? Machte Hansen Anstalten, Regler damit zu erpressen – oder ihm damit zu drohen?
Ein Kinderarzt, der ein Kind auf dem Gewissen hat, auch wenn er selbst noch ein halbes Kind war bei der Tat – das ertragen Eltern nicht. Wenn sein Vorleben bekannt wurde, war Reglers Karriere beendet, zumal nach dem jüngsten Skandal um das bei einer Operation gestorbene Kind.
Alles sortierte sich neu.
Der Audifahrer vor ihr bremste ab. Fast wäre sie ihm in den Kofferraum gefahren. Leise fluchend schaltete sie herunter und fuhr dann wieder an.
Nächster Punkt: die Tatwaffe. Es gab tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Stein, der Martin Brandt und dem, der Michael Hansen getötet hatte. Nur der Täter kannte die Beschaffenheit der Waffe, mit der Michael Hansen erschlagen worden war. Klar – Thomas Regler. Der Mann, der ebenfalls wußte, mit welchem Stein Martin Brandt erschlagen worden war.
Karen wechselte auf die rechte Fahrbahn, hinter einen Reisebus aus Prag. Und genau das war der Haken in ihrer Beweisführung. Wenn Thomas Regler mit dem Mord an Michael Hansen verhindern wollte, daß seine Vergangenheit bekannt wurde, dann war es nicht unbedingt ratsam, eine Tatwaffe zu wählen, die es zumindest erlaubte, Zusammenhänge herzustellen.
Und wenn sich die Spurensicherung nicht so verdammt dämlich angestellt hätte, wenn bei dieser Ermittlung nicht so ziemlich alles schiefgelaufen wäre, was schieflaufen konnte, dann wäre man früher auf Unstimmigkeiten gestoßen. Der Stein hätte den Ermittlern gleich auffallen müssen. Der Stein war ein Solitär in seiner tristen Umgebung gewesen. Die Bungalows hatte man
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