Schneesterben
Was hat er dir getan? Was hat er dir gesagt , Krista?
Und wo er den Stein gefunden hätte, die Tatwaffe. Er hörte sich plötzlich stottern und stammeln wie Krista damals in der Verhandlung. Was konnte er schon sagen? Wohl nicht: ich war wie in Trance. Ich fühlte den Stein in meiner Hand, die kalte, feuchte Körnung, die Bruchstelle, die scharfe Spitze. Ich weiß nicht, wie er dahin kam. Ich weiß nur: ich holte aus und…
Ihm brach der Schweiß aus beim Gedanken daran. Als er aufblickte, sah er Akifs Blick. Der Kleine lächelte mit schmalen Lippen. Ihm wurde kalt.
Am nächsten Tag blieb er beim Hofgang hinter den anderen zurück. Nur Wolfgang hatte sein Buch noch auslesen wollen und holte ihn schließlich ein. Eine Zeitlang gingen sie nebeneinander, ohne sich anzusehen.
»Du machst einen Fehler«, sagte der Glatzkopf leise.
»Der kleine König ist nicht gut auf dich zu sprechen.« Er nickte mit dem Kinn hinüber zu Akif, der mit einem Kumpel die Köpfe zusammensteckte.
Thomas zuckte die Schultern.
»Du liest nur noch. Du hast Allüren. Sprichst zuviel mit dem Pfarrer. Gehst zum Krafttraining in den falschen Raum. Bist dir wohl zu fein für menschliche Gesellschaft.« Wolfgang grinste.
Thomas lächelte nicht zurück. »Und du? Du redest tagelang nicht mit ihm.«
»Das ist was anderes. Auf mich kann er nicht verzichten. Aber du…« Er flüsterte plötzlich. »Paß auf dich auf.« Bevor Thomas fragen konnte, was er damit meinte, drehte Akif sich um, suchte den Hof ab, sah Thomas und drehte sich sofort wieder weg.
In der Zelle hatte sich die Stimmung spürbar verändert. Akif war noch immer leutselig, aber er bot Thomas keinen Kaffee mehr an. Oder Wodka, was Thomas weniger bedauerte. Und am nächsten Tag beim Hofgang tat er, als ob ihm Thomas nur flüchtig bekannt sei. Immer hatte er ihm sonst die Hand auf die Schulter gelegt oder den Arm auf den Rücken, hatte »Doktor« zu ihm gesagt und ihn den anderen vorgestellt.
Als er eines Abends wieder telefonierte, glaubte Thomas seinen Namen zu hören.
An diesem Abend lag er lange wach.
25
Frankfurt am Main
M an gab sich rücksichtsvoll, als Karen am Montag früh wieder zur Konferenz erschien. »Schonen Sie sich«, sagte Oberstaatsanwalt Zacharias immer, bevor er ihr eine weitere dringende Angelegenheit aufhalste. Eva Daun musterte sie von der Seite und nickte ihr dann aufmunternd zu. Selbst H2O griente zu ihr hinüber, sie deutete das als den Versuch, anteilnehmend zu lächeln.
In ihrem Zimmer türmten sich Papierberge auf dem Schreibtisch. Sie sortierte alles flüchtig durch. Dann hörte sie den Anrufbeantworter ab. Beim dritten Anruf machte ihr Herz einen Satz, bevor es beschleunigt weiterpochte. Es war Gunter Carstens.
»Ich muß dich sprechen.« Na endlich, dachte sie, ein Gedanke, der eigentlich verboten war. Aber warum erst jetzt? Und warum rief er im Büro an?
Weil du in den letzten Tagen nur ab und an mal ans Telefon gegangen bist, deshalb. Und außerdem…
Aber seine Stimme klang nicht, als ob er einen privaten Grund hätte, sie anzurufen. Er klang so verdammt sachlich – ganz der Mann mit dem Skalpell. Karens Mund wurde trocken. Sie dachte nicht daran, zurückzurufen.
Statt dessen versuchte sie, Paul Bremer zu erreichen.
Niemand antwortete. Endlich tat sie etwas, was sie normalerweise nie machte während der Dienstzeit: Sie rief Marion an. Ihr war nach freundschaftlicher Aufmunterung.
Marion klang ausgeschlafen und unbekümmert. »Ich muß nur gerade…« sagte sie. Karen hörte ein lautes Poltern und dann einen wenig damenhaften Fluch. »Ich habe nur eben…« Es polterte wieder. Dann ertönte das Freizeichen. Karen lachte in sich hinein. Marion hatte zwei linke Hände. Wahrscheinlich hatte sie versucht, zugleich zu telefonieren und sich einen Espresso zu machen. Aber immerhin rief sie Sekunden später zurück.
»Daß du das Telefon so schnell wiedergefunden hast!« sagte Karen zur Begrüßung.
Am anderen Ende blieb es still.
»Hat es dir die Sprache verschlagen? Ja, die moderne Telekommunikation ist nicht jedermanns Sache!«
»Ich werde daran arbeiten«, sagte eine Stimme verhalten.
Karen atmete geräuschvoll aus. »Gunter.«
»Du wartest wohl auf einen anderen Anruf. Wir können ja auch später…« Was konnte der Mann für kilometerweite Distanzen in seine Stimme legen.
»Nein, ist schon gut. Ich hätte dich auch gleich angerufen.«
»Ich würde dich nie in der Dienstzeit stören, aber in diesem Fall…«
Das war ja das Elend.
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