Schneesterben
stöhnte und klirrte es weiter.
Thomas sah sich um. Rechts von der Tür, das Gesicht verzerrt, lag Pjotr auf der Bank und versuchte vergeblich, eine Scheibenhantel in die Höhe zu stemmen. Geräuschvoll ausatmend ließ er die Stange in die Halterung einrasten, stand auf, zog sich den breiten Ledergürtel enger, richtete seinen Behang, machte ein paar tänzelnde Schritte und murmelte: »Heute is’ irgendwie nich’.«
Akif hingegen, der im hinteren Teil des Raumes seine Beinmuskeln trainierte, bewegte das Gewicht wie ein Uhrwerk, gleichmäßig und still. Seine Haut glänzte vor Schweiß.
»Das hier ist für die harten Jungs«, murmelte Max Postel. Er führte Thomas in den nächsten Raum. »Und das hier ist für Leute wie Sie und ich.«
Thomas sah blitzende Maschinen mit Polstern aus grauem Kunstleder. »Alles vom feinsten für unsere Knackis«, sagte Postel und breitete die Arme aus.
»Und alles von unseren Steuergeldern?« Offenbar war an der Klage über den Luxus im Strafvollzug was dran.
Postel schüttelte den Kopf. »Alles gestiftet. Von einem, der auch mal so angefangen hat wie die da hinten.«
Nach einer Stunde kam Regler mit vibrierenden Muskeln zurück auf die Zelle. Wolfgang lag auf dem Bett und las. Alle anderen hatten sich um Akif versammelt, als ob der König keinen Stuhlgang gehabt hätte. Tatsächlich,Akif sah leidend aus.
»Gut, daß du kommst, Thomas. Du bist doch Doktor.
Was ist das, wenn es hier« – Akif faßte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zwischen die Beine –, »wenn es hier juckt?« Die anderen grinsten verhalten.
»Dann hast du entweder den Falschen gevögelt oder dich zu lange nicht gewaschen.«
Thomas hörte es von oben kichern. Das Buch bebte, das Wolfgang sich vor die Nase hielt. Die anderen versuchten, ernst zu bleiben. Akif wurde rot im Gesicht.
Scheiße, dachte Thomas. Das war ein Treffer zuviel. Sag, daß es dir leid tut, flüsterte eine innere Stimme. Daß du es nicht so gemeint hast.
»Entschuldige,Akif, ich…« hörte er sich sagen.
Dann lachte Akif. Er schüttete sich geradezu aus vor Lachen. Pjotr stimmte ein, als ob er Keuchhusten hätte. Harun keckerte wie ein Ziegenbock, und selbst Lessie verzog den dünnen Mund.
»Das ist gut, Doktor, das ist wirklich gut.« Abrupt hörte Akif wieder auf zu lachen. »Du gehst sofort zum Arzt, Kleiner, ist das klar?«
Lessie sah an ihm vorbei. Dann nickte er müde.
Am nächsten Tag beim Hofgang nahm Akif Thomas am Arm und erzählte den Witz jedem, der nicht schnell genug ausweichen konnte. Regler merkte an den Reaktionen der anderen, daß sie die Geschichte so komisch nicht fanden. Und daß sie von einem Doktor nichts hielten – auch wenn er wegen Totschlags am Liebhaber seiner Frau einsaß, etwas, das natürlich alle irgendwie in Ordnung fanden.
Er stand jedenfalls eindeutig besser da als der Mann, den Akif und die anderen kürzlich zusammengeschlagen hatten. Dem Kerl fehlten zwei Zähne, mehrere Rippen hatten sie ihm gebrochen, von Milzriß war die Rede. Und gar nicht zu vergleichen war sein Ansehen mit dem des Kerls, der einen Mord an einem zwölfjährigen Jungen gestanden hatte. Seit gestern machte die Nachricht die Runde, der Mann – auch noch der Nachhilfelehrer des getöteten Jungen – werde ausgerechnet hier, in Strang, in Untersuchungshaft kommen. Seither brüllten die Männer von Zelle zu Zelle immer neue Ideen über den Hof, wie man den Kerl möglichst langsam und schmerzhaft zur Strecke bringen könnte. Als beliebteste Maßnahmen wurden Vergewaltigen, Kastrieren und Garottieren gehandelt.
Thomas merkte, daß ihm noch nicht einmal mehr ein halbes Lachen gelingen wollte, wenn Akif oder Pjotr wieder eine neue Qual für den Kinderschänder erfunden hatten. Er verkroch sich in ein Buch aus der Anstaltsbibliothek, die gut sortiert war und leider nur einmal in der Woche geöffnet hatte. Lieber noch ging er zum Krafttraining. Alles, um nicht Akifs und Pjotrs Geschwätz hören zu müssen und um den Gedanken an den nächsten Besuch seiner Anwältin verdrängen zu können.
Zuerst hatte es ihn gewundert, daß Edith Manning ihn vertreten wollte. Dann freute ihn der Gedanke, auf diese Weise mit Krista verbunden zu sein. Angenehm war auch, daß man bei jedem Anwaltsbesuch aus seiner Zelle kam. Beim dritten Besuch aber begann er, den nächsten zu fürchten.
Sie ließ nicht locker. Sie fragte nach jedem Detail. Ob er gesehen und gehört hätte, was zwischen Hansen und Krista vorgefallen war?
Er wünschte, er hätte.
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