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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Eben.
    Sie ließ nach der Akte über den Fall von 1979 suchen.
    Niemand sollte ihr vorwerfen können, sie hätte auch nur einen einzigen Hinweis mißachtet. Oder daß sie Vorurteile pflege, nur weil sie nicht, wie alle anderen männlichen Chauvinisten, das Geständnis von Krista Regler sofort angezweifelt hatte – mit der ultraprogressiven Begründung, daß Frauen statistisch zu Gewalt nicht neigen.
    Eine gekränkte Frau war zu allem möglichen in der Lage.

26
    JVA Strang
    D er Tag, an dem Lessie zur Vollzugsgeschäftsstelle gerufen wurde, änderte alles. Schon eine halbe Stunde später kam er zurück, würdigte Akif keines Blicks, packte seine Sachen, rief »Fertig!« in die Gegensprechanlage, wurde herausgelassen und ging, ohne ein Wort.
    »Kommt er nicht wieder?« Was für eine naive Frage, dachte Thomas, als sie heraus war.
    »Sieht ganz nach Mangel an Beweisen aus«, nuschelte Wolfgang von oben herunter.
    »Wer weiß, wer nach ihm kommt.« Harun hatte die Lippen zusammengepreßt und sah aus, als ob mit Lessie ein verdienter Dienstbote gegangen wäre, der nicht einfach zu ersetzen sein würde.
    Thomas guckte verstohlen zu Akif hinüber, aber der stand am Fenster und schien eine SMS ins Handy zu tippen. Ob der Junge wohl eine gute Abschiedsvorstellung gegeben hatte? Und ob sich jemand finden lassen würde, der ähnlich willig war?
    Kurze Zeit später wurde ihnen von Eule ein Kerl wie ein Schrank ins Zimmer geschoben. Der Grüne schien die Tür hinter dem Neuzugang besonders laut zuzuknallen. Thomas sah kompakte Formen, schwarzglänzende, zurückgekämmte Haare, Schnauzer im runden Gesicht, Tätowierungen auf den kräftigen Oberarmen, O-Beine.
    »Kanter«, sagte die Erscheinung knapp und ließ sich auf Lessies Bett fallen. Der ausgeleierte Metallrahmen stöhnte.
    »Haben wir ein Erdbeben?« Wolfgang guckte von seiner erhabenen Position aus herunter auf seinen neuen Schlafkameraden und sagte dann: »Oje.«
    Und endlich drehte sich der Herrscher über Zelle 213 um und musterte den neuen Mann. »Akif«, sagte er, lächelte und hielt dem anderen die Hand hin.
    Kanter hatte die Beine hochgelegt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und rührte sich nicht. »Bist du der Obermufti? Gibt’s hier nur Kanaken?«
    Thomas schaute zu, wie das Lächeln aus Akifs Gesicht verschwand und seine Augen etwas Reptilhaftes bekamen. »Wir sind hier nicht ausländerfeindlich, Mann«, sagte er leise.
    »Ich hab’ nichts gegen Ausländer. Nur gegen Kanaken.« Kanter sprach das Wort geradezu zärtlich aus.
    »Wann gibt’s in diesem Saftladen was zu essen?«
    »Ein paar Tage Fasten bekäme dir ganz gut.« Akif musterte den anderen von oben bis unten und grinste selbstgefällig.
    »Du meinst – so kanakenmäßig? Tags nichts essen, aber abends reinhämmern, bis die Schwarte kracht?« Kanter setzte sich auf. »Soll nicht gerade gesund sein.«
    »Essen gibt’s um kurz vor zwölf.« Pjotrs Stimme klang ergeben, ja unterwürfig. Er übt schon mal, dachte Regler. Er sieht die Zeichen. Und die deuten auf Machtwechsel.
    Akif schickte Pjotr einen grimmigen Blick zu.
    Kanter gähnte gründlich. »Und was gibt’s in diesem Scheißknast sonst noch so?«
    »Umsonst ist der Tod«, sagte Akif sanft.
    »Gegen Bares. Vor dem Abgang.« Der Neue sah den anderen lauernd an.
    »Schnee, Wodka, Oxandrolon. Und ein Telefon.« Als Akif Anstalten machte, sich zu Kanter auf die Pritsche zu setzen, sah Regler zu seiner Verblüffung, daß der Kleiderschrank dem anderen bereitwillig Platz machte.
    »Erst Wodka. Dann ein Telefon.« Kanter hielt Akif die Hand hin. Der Kleinere schlug ein.
    Von der nächsten Freistunde kam Pjotr mit einer verbundenen Hand zurück. »Was glotzt du?«
    Thomas hatte den Blick eine Sekunde zu lang auf dem Verband ruhen lassen.
    »Ein kleiner Unfall in der Gärtnerei. Man sollte eben nicht zu eifrig sein.« Akif lächelte väterlich und hieb dem Verräter mit der flachen Hand auf den Rücken. Dann wandte er sich wieder Kanter zu. Harun wischte nervös über den Fernseher. Er hatte ab sofort zwei Kleintyrannen zu versorgen.
    Thomas war froh, daß Edith Manning zwei Tage Urlaub machte, die Bibliothek ein paar vernünftige neue Bücher gekriegt hatte und Akifs Aufmerksamkeit nicht mehr ihm galt. Er bemühte sich, darüber hinwegzusehen, daß beim Hofgang und in der Kirche getuschelt wurde, wenn man ihn sah, und daß Akif in der Öffentlichkeit tat, als habe er nie den Arm um ihn gelegt. Doch als er nachts aufwachte und nicht mehr

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