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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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den Gartenscheren, Äxten und Sägen stand Willi und sah aus, als ob er sich nicht zwischen Vorschlaghammer und kanadischem Spaltbeil entscheiden könnte.
    Kosinski schien nachzudenken. »Hast du Zeit?« sagte er schließlich. Bremer nickte. »Dann komm.«
    Hinter dem Baumarkt führte ein asphaltierter Feldweg auf ein Wäldchen zu. Vom blendendgelben Rapsfeld wehte ein wilder, tierischer Geruch herüber. Die Buchen am Wegesrand strotzten in frischem Grün, sie waren gewachsen, auch wenn sie noch Jahre brauchen würden bis zur Allee. Dann führte der Weg hinab, in das Wäldchen aus Birken und Lärchen.
    »Die Sache ist komplizierter. Auf dem Land, wo man so eng aufeinanderhockt wie in dieser Ecke hier, schweigt man nicht, weil man verdrängt, sondern weil man miteinander leben muß. In der Stadt kannst du ausweichen. Nicht hier. Hier gibt’s nur die Flucht. Und wer bleiben will, muß die Hunde schlafen lassen. Moritz wird das nie kapieren.«
    Bremer hatte es langsam gelernt. Es gab Konflikte, über die man nicht reden durfte, und sein naives »Warum?« wurde in solchen Fällen einfach nicht beantwortet. Selbst Marianne wurde einsilbig, wenn man sie nach den Nachbarn im Aussiedlerhof jenseits des Streitbachs fragte. Es war die verläßlichste Auskunft, die sie über Zu und Abneigungen in und um Klein-Roda zu geben vermochte.
    An der Talsohle öffnete sich das Wäldchen auf eine Backsteinmauer, die bis an die Baumwipfel heranreichte und oben von Zinnen gekrönt war. Lächerlich klein wirkte die schwarze Öffnung an ihrem Fuß. Das eiserne Eingangstor stand offen.
    »Der Tunnel des Anstoßes«, sagte Kosinski, und Bremer zögerte, bevor er eintrat. Feuchte kühle Luft empfing sie in dem Gewölbe aus rotem Klinker. An den Wänden hingen Leuchtstoffröhren, deren Licht, durch Fliegendreck gedämpft, gerade noch eine Ahnung von der Größe des Raumes zuließ. Rechts und links öffneten sich dunkle Gelasse, der Fußboden glänzte feucht, in den Beton waren Schienen eingelassen. Ihre Schritte hallten.
    »Sie sind nicht die ersten«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Und Sie werden nicht die letzten sein, die sich für unsere örtliche Geisterbahn interessieren.« Der Mann hatte eine Eisenkette und einen Hammer in der Hand.
    »Hallo, Marius.«
    »Bonsoir, Herr Kommissar«, sagte der Mann und lachte breit. Bremer sah in einen dunklen Schlund und auf ein paar Zahnruinen, wie es sie im Zeitalter der Krankenkassenbehandlung nur noch selten gab. »Wenn’s nach mir ginge, hätten wir das Loch hier schon vor Jahren gesprengt. Oder zugemauert. Das zieht nur Selbstmörder und Spinner an. Und wenn was passiert, ist das Geschrei groß.«
    »Dürfen wir?« fragte Kosinski und wies in den Raum.
    »Aber bitte! Hier darf ja jeder!«
    Sie gingen weiter, bis das Gewölbe sich zu einer Halle öffnete. »Die Zwangsarbeiter haben doch niemanden interessiert nach dem Krieg – die paar Polacken und Russen, die noch kriechen konnten«, sagte Marius hinter ihnen. » Das hier hat alle wild gemacht. Das, was hier stand. Ein Zug. Der Zug.« Marius’ Stimme war zu einem Flüstern geworden, vom Echo verstärkt und verzerrt.
    »Der Zug des Führers«, sagte Kosinski neben ihm.
    »Komplett mit allem Drum und Dran. Der war schneller geplündert, als du Heil Hitler sagen kannst. Vom Klo bis zu den Telefonen. Jeder hat hier zu Hause irgend etwas davon herumstehen.« Marius gab einen Laut von sich, den das Echo über Wände und Decken schickte und als Schluckauf zurückspielte.
    »Und dann haben sich der Kleeberg Rudi und der Faust Erwin wegen einem blödsinnigen Bild aus dem Scheißführerzug geprügelt, und der Rudi hat den Erwin niedergeschossen. Als Plünderer.«
    Erst kommen die tragischen Ereignisse, dachte Bremer. Und dann die unnötigen.
    »Und was hältst du davon, wenn man aus dem Tunnel hier eine Gedenkstätte macht?« fragte Kosinski sanft.
    Marius spuckte aus. »Brauch’ ich nicht. Ich weiß, was damals hier passiert ist – jeder weiß es. Im Krieg – und danach.«
    Er zeigte auf eine Nische in der Wand, an der Bremer nichts Besonderes auffiel. »Hier hat sich Walter Knab umgebracht. Mit dem Dienstrevolver. Soll das vielleicht auch auf eine Gedenktafel?« Er schüttelte den Kopf.
    »Man muß vergessen können.« Er klang, als ob er sich das jeden Tag aufs neue einreden müßte. »Sogar meine Mutter hat mit den Weibern später wieder Kaffee getrunken, die sie bespuckt haben, weil sie einen Polakken liebte.«
    Kosinski neben ihm bückte sich,

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