Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
Vom Netzwerk:
einschlafen konnte, weil Kanter und Pjotr um die Wette sägten, gestand er sich ein, daß er genau das vermißte. Es war die einzige Berührung gewesen seit verdammt langer Zeit.
    »Hast du Kinder?« fragte Akif am nächsten Morgen mit beiläufigem Interesse. Als er nicht gleich antwortete, grinste Akif. »Du meinst – du bist dir nicht sicher?«
    Thomas hob die Schultern, ließ sie wieder fallen und versuchte zurückzugrinsen.
    »Ich habe mindestens drei. Soweit ich weiß.« Akif blickte mit hochgezogenen Augenbrauen zu Kanter hinüber, der die Augen gen Himmel rollte und idiotisch mit dem Kopf wackelte.
    »Warst du nicht Kinderarzt?«
    War er das? Irgendwann einmal. Damals. Thomas nickte.
    »Das ist gut. Das ist wichtig.« Akif sah an ihm vorbei zum Fenster und klatschte wie zur Bestätigung in die Hände. Und dann, leiser: »Morgen kommt der Kerl, der den kleinen Felix umgebracht hat. Wehe, sie lassen ihn aus der Zelle. Das überlebt das Schwein nicht.« Und dann drehte er sich zu Thomas um und sah ihm in die Augen. »So macht man das mit Kinderschändern, Doc. Das weißt du doch.«
    Im Kraftraum war es still. Thomas war froh, den anderen aus dem Weg gehen zu können. Er hatte sein Programm mittlerweile verfeinert und begann, die immer gleichen Bewegungsabläufe zu lieben: mit den Ellenbogen stoßen, mit den Armen ziehen, mit den Beinen drücken. Die Augen schließen, den Geruch von Schweiß und Reinigungsmittel einatmen, der in den kunstledernen Polstern saß, und den Duft des Maschinenöls, mit dem Kette und Schwungrad geschmeidig gemacht waren. Auf den eigenen Herzschlag hören, auf das Schaben der Kette und das leichte Klirren der Gewichtsbarren. Von ferne hörte er Johlen aus der großen Turnhalle und eine Lautsprecherdurchsage.
    Er geriet in einen Schwebezustand, in eine leichte Trance. Und nach einer halben Stunde schickte ihn die Chemiefabrik seines Körpers, in der man Überstunden machte, in eine andere Umlaufbahn. In eine fremde Galaxis. Das war der Ort, an dem er am liebsten war.
    Die Gestirne kreisten über ihm, erst langsam und majestätisch, dann immer schneller. Langsam hob er ab.
    Aber dann – stahl sich ein neuer Geruch in seine Nüstern, ein Geruch nach Heu und Katzenpisse. Er spürte die Sonne im Gesicht und die Kühle des Schattens im Birkenwäldchen. Über das Klirren und Schaben legte sich ein Wimmern und Schreien, immer lauter schrie es, er hätte sich am liebsten die Hände vor die Ohren gehalten, um nichts hören zu müssen. Dann klirrte eine Kette zu Boden, eine Tür ging auf, und sie waren drin in dem kühlen Raum, in den er allein nie hineingegangen wäre.
    Das Wimmern wurde lauter. Hanni sagte etwas, er lachte dabei. Dann fühlte Thomas den Stein in seiner Hand, einen kalten, bröseligen Stein, die Hälfte eines roten Backsteins, verfärbt von Kalk und Mörtel, die Bruchstelle gezackt. »Du traust dich ja doch nicht«, hörte er Hanni sagen. Es ist alles nur ein Traum, dachte etwas in ihm. Er holte aus. Es machte ein Geräusch, wie wenn ein Apfel vom Baum fällt und auf dem Asphalt zerplatzt. Endlich hörte man gar nichts mehr. Auch das Wimmern nicht und das Weinen.
    Und dann prasselte es auf ihn ein. »Aufwachen, um Himmels willen!« Er versuchte, die schweren Augenlider zu heben. Max Postel. Der Pfarrer ohrfeigte ihn, und es kam ihm verdient vor. Er hielt ihm das Gesicht hin, als ob er weitere Schläge erwartete.
    Dann löste jemand den Gurt um seine Taille, kräftige Hände zogen ihn hoch. »Kreislaufkollaps«, murmelte einer. »Na komm schon«, sagte ein anderer.
    »Es war ein Spiel«, hörte er sich sagen.
    Im Haftraum wußten schon alle Bescheid.
    »Sport ist Mord«, sagte Kanter gemütlich.
    Akif krempelte sein Hemd hoch und ließ den Bizeps an und abschwellen. »Was hast du vor mit den ganzen Muckis? Magst du knackige Männer mit Muskeln?«
    Thomas schüttelte den Kopf.
    »Oder« – Akifs Blick wurde lauernd. »Oder treibst du es lieber mit Jungen. Mit Kindern?«
    Thomas spürte, wie das Blut seinen Kopf verließ und ihm in die Füße sackte. »Wie kommst du darauf«, flüsterte er.
    »Du magst nicht unter Männern sein, oder? Weshalb sieht man dich kaum noch? Bist du zu fein für uns?«
    »Komm, Alter! Laß ihn in Ruhe! Ein Kinderarzt kann nun mal besser mit kleinen Jungens als mit großen behaarten Kerlen! Da mußte dich doch nicht wundern.« Kanters Stimme klang, als wolle er den anderen beruhigen. Aber er hatte sich aufgesetzt auf seiner Pritsche. Er wirkte wie ein

Weitere Kostenlose Bücher