Schneesterben
Gunter war nicht nur korrekt, er war überkorrekt.
»… ist es ja auch eher eine berufliche Angelegenheit.«
Natürlich. Was denn sonst. Was hatte sie denn geglaubt.
»Ich habe die Sache Michael Hansen noch einmal durchgesprochen mit Prof. Streuch.«
Streuch hatte die Obduktion von Michael Hansen geleitet und war die Eminenz des Rechtsmedizinischen Instituts, ein Mann kurz vor der Pensionierung, der nicht aussah, als ob er auch nur in zehn Jahren reif für die Rente wäre. Was für eine Verschwendung, dachte Karen, die voller Entsetzen an die Vorstellung dachte, sich mit 65 oder gar früher aus dem Beruf zurückziehen zu müssen.
»Wir sind uns einig, daß der Tathergang genauso gewesen sein könnte, wie Thomas Regler behauptet hat. Auch die Einsprengungen in die Kopfwunde könnten von der vorgeblichen Tatwaffe verursacht sein.«
Na prima, dachte Karen. Und damit kommt er jetzt.
»Ihr hättet vielleicht gleich…«
»Karen, komm. Du weißt, daß wir nur Feststellungen am Tisch treffen. Alles andere ist Sache der ermittelnden Instanzen, und da war von einer Tatwaffe in der Nähe der Leiche zunächst nicht die Rede.«
Er hatte recht. Sie ärgerte sich über sich selbst.
»Schon gut«, sagte sie. Ihr war entfallen, wann der Prozeß gegen Thomas Regler stattfinden würde. Jedenfalls war von Seiten der obduzierenden Ärzte kein störendes Sperrfeuer mehr zu erwarten.
»Da ist noch etwas anderes.« Carstens zögerte. Karen dämpfte den zaghaft aufflatternden Wunsch, es möge etwas Privates sein.
»Streuch berichtete während unseres Gesprächs von einem Fall, an den er sich erinnert fühlte angesichts der Verhandlung gegen Krista Regler. Willst du das hören?«
Will ich? »Na klar«, hörte sie sich sagen.
»Er erinnert sich an den Fall, weil die Sache damals das ganze Land erschütterte. Und er hatte das Opfer auf dem Tisch.«
Manchmal mochte sie die kühle Sprache der Gerichtsmediziner nicht. »Er ist am Tisch«, sagte die Sekretärin stets, wenn man einen der Herren zu sprechen wünschte. Der Professor steht in Metzgerschürze vor dem großen grauen Steintisch mit dem Abflußloch in der Mitte und versucht, mit Skalpell, Zange und Säge das letzte Geheimnis eines Menschen zu ergründen, hieß das im Klartext.
»Im Sommer 1979 hat man einen kleinen Jungen erschlagen aufgefunden, nahe einem Dorf in Oberhessen. Die Tatwaffe: ein roter Ziegelstein, bzw. die abgebrochene Hälfte davon, mit scharfen Kanten. Der Stein ist wie eine Art Faustkeil benutzt worden und ins Cranium des Kindes gedrungen. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst.«
Danke für das Kompliment, dachte Karen. 1979 sang sie im Schulchor, glaubte an das Gute im Menschen und wollte, wenn sie groß war, Entwicklungshelferin werden. Oder Schauspielerin.
»Die Täter waren bald gefunden. Sie haben den Sechsjährigen dazu überredet, mit ihnen zu gehen, haben ihn dann gequält, geschlagen und schließlich getötet. Es waren zwei vierzehnjährige Nachbarsjungen.«
Es dämmerte ihr. Das war der Fall, den sie im Studium durchgenommen hatten – er galt als Beispiel für die Extremfälle, mit denen das deutsche Jugendstrafrecht zu tun haben konnte.
»Ich weiß nicht, ob du was damit anfangen kannst.« Carstens klang, als ob er sich entschuldigen wollte.
»Und ich habe dich während der Arbeitszeit gestört!«
Jetzt leg bloß nicht gleich wieder auf, dachte Karen.
»Gunter.«
»Ich weiß ja, du hast zu tun. Ich übrigens auch.«
Er war schon wieder auf dem Absprung. Ohne ein Wort über – ja worüber eigentlich? »Ich hoffe, es ist nichts allzu Schlimmes.« Sie versuchte, die Fassung zu bewahren.
»Nur ein Obdachloser und eine 93jährige aus dem Altersheim.« Carstens klang müde. »Also dann…«
Also dann. Ende der Affäre.
Erst, nachdem sie die dringendsten Sachen erledigt hatte, fiel ihr wieder ein, was Carstens über den mehr als zwanzig Jahre alten Fall des Kindesmords durch Kinder gesagt hatte. Eine ähnliche Tatwaffe. Aber was hieß das schon? Es gab Gegenden, in denen rote Klinkersteine zum üblichen Baumaterial gehörten und deshalb nur so herumlagen. Nicht dort, wo Hansen gefunden worden war, zugegeben, aber…
Vielleicht hatte Paul eine Eingebung. Sie griff zum Telefon und ließ die Hand wieder sinken. Er war bestimmt wieder unterwegs. Er hatte sie seit Wochen nicht angerufen. Nun, sie ihn auch nicht. Hätte sie eine seiner vorhersehbar spöttischen Bemerkungen über ihre junge blühende Liebe zu Gunter Carstens ertragen?
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