Schneestille
Mann. Der kommt und hilft dir.
»Jake!«
Zweimal rief sie seinen Namen. Ihre Stimme klang fremd, weit weg, gedämpft, wie aus einer sehr schlechten Telefonleitung. Sie vermutete, dass auch ihre Ohren mit Schnee verstopft waren.
Wieder streckte sie die Finger, und auch diesmal gab der Schnee keinen Millimeter nach. Sie probierte, jedes einzelne Gelenk zu bewegen, wie beim Aufwärmen in der Turnhalle, angefangen mit den Zehen, dann den Knöcheln und Knien, den Hüften, Ellbogen, Schultern. Es half alles nichts. Der Schnee umschloss sie wie ein eisiges Korsett. Ihr Nacken ließ sich kaum merklich bewegen. Das und der Freiraum um ihren Mund verleitete sie zu der Annahme, dass der Impuls, die Arme um den Kopf zu legen und ihr Gesicht zu schützen, ihr vorerst das Leben gerettet hatte. Damit, so vermutete sie, hatte sie auch die Luftblase geschaffen.
Ruf ihn noch mal. Er kommt und hilft dir.
»Jake!«
Du wirst sterben. In einem Schneegrab.
Sie wusste nicht mal, in welchem Land sie sterben würde. Sie waren genau auf der Grenze zwischen Frankreich und Spanien, und die Einheimischen sprachen eine unverständliche Sprache, die weder hierhin noch dorthin gehörte. Sie musste daran denken, dass die Pyrenäen von den alten Griechen nach einem Grab benannt worden waren.
Nein, du bist nicht in einem Grab. Du kommst hier wieder raus. Ruf ihn noch mal.
Doch statt noch mal zu rufen, versuchte sie abermals, die Finger der linken Hand zu bewegen, einen nach dem anderen. Daumen und Zeigefinger waren wie gelähmt, genau wie der Mittelfinger, aber als sie den Ringfinger anspannte, spürte sie ein kaum merkliches Bröckeln und eine winzige Bewegung in der Fingerspitze. Irgendwas gab minimal nach, und sie schaffte es, den Finger vielleicht einen Zentimeter weit zurückzuziehen. Und gleichzeitig mit der Bewegung flammte ein gleißend helles Licht hinten an ihrer Netzhaut auf. Dann ein Regenbogen aus Funken. Und dann wieder Schwärze.
Ruhig Blut. Nur ruhig Blut.
Beharrlich bewegte sie ihren Ringfinger weiter, und nach einiger Zeit stellte sie fest, dass sie ihn wie eine Schere auf den Mittelfinger zubewegen konnte. Diese Scherenbewegung zwischen Ringfinger und Mittelfinger machte sie immer weiter. So ist es gut: Du schneidest dich frei. Schnipp, schnapp. Schnipp, schnapp. Braves Mädchen. Du schneidest dich frei.
Sie wusste nicht, wie lange sie noch würde atmen können; wie viel Luft ihr noch blieb. Sie versuchte, mit ihrem Atem hauszuhalten, nicht zu tief durchzuatmen, nur an der Luft zu nippen. Ihr Kopf pochte vor Schmerz.
Unbeirrt versuchte sie weiter, den Schnee um ihre Finger fortzuschnippeln, bis sie einen Muskelkrampf bekam. Sie ließ ihre Finger ausruhen, streckte sie und setzte wieder an. Schnipp, schnapp. Schnipp, schnapp. Schnipp, schnapp. Braves Mädchen.
Und dann, völlig unverhofft, brach irgendwas plötzlich weg, und ihre Finger waren frei, sodass sie schließlich jeden einzelnen strecken und beugen konnte. Und dann spürte sie, wie ihre zappelnden Finger seitlich ihr Gesicht streiften.
Nun machte sie kleine hackende Bewegungen wie Karateschläge mit der Oberkante ihrer nun beweglichen Finger und versuchte, ihre andere Hand zu finden in der Hoffnung, auch sie könne ganz dicht vor ihrem Gesicht sein. Sie schaffte es, die Hand aus der kleinen Höhle herauszuziehen, die sie geschaffen hatte, und sie wieder hineinzustecken. Und dann endlich berührte ihre freie Hand die eingeschlossene. Verbissen arbeitete sie weiter, bis sie die Handfläche ihres freien Handschuhs auf den Rücken der eingeschlossenen Hand legen konnte. Entschlossen griff sie mit ganzer Kraft in den Schnee hinein. Sie hatte richtig geraten und tatsächlich eine kleine Luftblase vor ihrem Gesicht eingeschlossen. Trotzdem hatte sie keine Ahnung, wie lange die Luft reichen würde. Eine Minute? Drei Minuten? Zehn Minuten?
Denk nicht darüber nach. Braves Mädchen.
Sie versuchte, die Hand aus dem Handschuh zu wursteln, weil sie wusste, mit den Fingernägeln würde sie sich leichter freigraben können. Doch die Handschuhe waren an den Handgelenken festgezurrt, damit kein Schnee eindringen konnte. In der unbeweglichen Dunkelheit versuchte sie, die Manschette ihres rechten Handschuhs zu lösen, doch ihre behandschuhten Finger waren zu ungeschickt, um das Band zu greifen.
Mit etwas Glück würde Jake sicher bald kommen. Es sei denn, er steckte auch fest. Mit etwas Glück würde aber auch jemand anderer kommen. Vielleicht kreiste in diesem Moment ja sogar
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