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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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daraus ein Scharren, und es kam näher.
    Und dann hörte sie ihn.
    »Zoe! Ich bin hier! Ich bin hier!«
    »O Gott, o Gott, o Gott, o Gott!«
    »Ich bin hier. Alles ist gut.«
    Sie konnte ihn zwar nicht sehen, aber seine Stimme war wie Sonnenlicht, das hell durch die bunten Bleikristallfenster eine Kathedrale fiel. Sie spürte, wie er hastig um ihren Stiefel herum grub. Sie hörte ihn keuchen und vor Anstrengung nach Luft schnappen.
    »Es hat keinen Zweck, ich muss Hilfe holen!«, hörte sie ihn rufen.
    »Nein, Jake! Grab mich aus! Grab mich jetzt sofort aus! Geh nicht weg! Nicht!«
    Es war still.
    »Okay. Dann grabe ich dich jetzt aus.«
    »Versuche es nur von einer Seite.«
    »Was?«
    »Von einer Seite!«
    »Ich verstehe dich nicht. Ich grabe dich jetzt aus.«
     
    Eine Stunde dauerte es, bis Jake Zoe aus dem Schnee freigeschaufelt hatte. Niemand kam ihm zu Hilfe. Zuerst grub er ihr rechtes Bein aus, dann räumte er einen tiefen Schacht bis zu ihrem Kopf frei, um die Gefahr zu bannen, dass sie erstickte, auch wenn sie sich immer noch nicht rühren konnte. Endlich hatte er auch ihren Arm befreit, und sie konnte ihm helfen.
    Als sie schließlich frei war, hatte er kaum noch die Kraft, sie aus dem Schneeloch zu ziehen. Aber gemeinsam schafften sie es.
    Auf den Knien umarmten sie sich lange; so fest, dass sie einander fast erdrückten.
    »Deine Augen müsstest du sehen«, rief sie. »Die sind ganz rot und blutunterlaufen!«
    »Der Schnee hat mir eins mitten auf die Zwölf verpasst.« Er schaute die Piste hinauf und hinunter. »Wenn man sich ausnahmsweise mal wünscht, es würde auf der Piste vor Menschen nur so wimmeln, ist keiner zu sehen. Willst du hierbleiben und warten, während ich Hilfe hole?«
    »Ich will nicht allein hierbleiben, Jake.«
    »Kannst du abfahren?«
    »Nein, ich hab meine Skier verloren. Die sind irgendwo im Schnee.«
    »Meine auch. Dann müssen wir eben zur nächsten Bergstation laufen. Ich bin völlig durchgefroren. Ich muss mich bewegen, um mich ein bisschen aufzuwärmen. Meinst du, du schaffst das?«
    »Mir geht’s gut. Wirklich. Vielleicht kommt das vom Adrenalin, aber mir geht’s gut. Komm, gehen wir.«
    Sie legten die Arme umeinander, schleppten sich zum Rand der Piste und machten sich dann an den langsamen und beschwerlichen Abstieg. Lebend. Lebend.
    Im leichten Schneefall brauchten sie vielleicht eine Dreiviertelstunde, bis sie sich mit den schweren Skistiefeln durch den hohen Schnee gekämpft hatten und über ihnen die Drahtseile eines Schlepplifts sahen, und gleich tauchte auch die Hütte der Zwischenstation etwa dreihundert Meter weiter bergab auf. Der Schlepplift lief nicht mehr. Und auch die Pisten oberhalb und unterhalb waren verwaist.
    Zoe zitterte. Jake redete, hauptsächlich, um sie abzulenken. Er erklärte ihr, die Bäume hätten ihm das Leben gerettet. Er sei gegen eine schlanke Kiefer gedrückt worden, habe die Arme darum geschlungen und sei dann an ihrem Stamm quasi nach oben geschwommen, während sich der Schnee um ihn herum immer höher auftürmte.
    Zoe grinste, schaute ihn an und nickte, als er erzählte, wie er mit knapper Not entkommen war. Sie wusste, wenn sie erst die Liftstation erreicht hatten, würde der Mann am Pult per Funk erste Hilfe anfordern, und schon bald würde man sie in Windeseile den Berg hinunter und in Sicherheit bringen.
    Doch als sie an dem kleinen Häuschen ankamen, war es leer. Durch die verschmierten Fensterscheiben konnten sie unter einer Reihe von Schaltern auf der Konsole ein rotes Lämpchen und zwei grüne Lichter leuchten sehen. Die Motoren, die den Lift antrieben, waren heruntergefahren. Die Glastür zur Hütte war nur angelehnt, und von drinnen strömte warme Luft heraus. Jake drückte die Tür auf.
    »Komm her, mein geliebtes Mädchen. Wir müssen zusehen, dass wir dich ein bisschen aufgewärmt bekommen.«
    »Meinst du, die haben den ganzen Berg gesperrt?«
    »Gut möglich. Vielleicht haben sie die Lawine gesehen und alle ins Tal geschickt. Setzen wir uns einfach ein Weilchen hin, bis du wieder ein bisschen Wärme im Leib hast.«
    Es gab einen Sitz mit zerrissenem Lederpolster, auf den Zoe sich erschöpft fallen ließ. Jake schaute sich kurz in der Hütte um.
    »Hey!« Sie hatte einen Flachmann auf dem Pult neben der Konsole entdeckt.
    »Her damit!« Jake schnappe sich die Flasche, schraubte den Deckel ab und trank einen tiefen Schluck.
    »Nicht so gierig! Was ist es denn?«
    »Keine Ahnung. Schmeckt furchtbar. Hier, probier mal.«
    Zoe

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