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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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schon ein Hubschrauber über ihnen. Aber außer ihnen war niemand auf der Piste gewesen. Höchstwahrscheinlich war es nur eine ziemlich kleine Lawine gewesen, die niemand sonst bemerkt hatte.
    Grab. Griechen. Pyr heißt Feuer. Du weißt es. Du weißt es. Pyrenäen. Scheiterhaufen. Schnauze, Schnauze.
    »Jake!«
    Diesmal klang ihre Stimme etwas lauter in ihren Ohren; aber sie klang auch sehr hilflos.
    Erneut versuchte sie, in der undurchdringlichen Schwärze das Band zu packen. Sie hörte, wie ein Klettverschluss aufriss, dann lockerte sich die Manschette. Mit der linken Hand packte sie die Fingerspitzen des rechten Handschuhs und schaffte es tatsächlich, ihn Zentimeter um Zentimeter herunterzuziehen. Aber wohin mit dem Handschuh? Das Ding kratzte ihr im Gesicht, aber sie ließ es trotzdem los und fing an, mit den Fingernägeln am Schnee direkt über ihrem Kopf zu scharren.
    Ihre Atmung war flacher geworden. Sie kratzte an dem komprimierten Schnee, aber ohne Erfolg. Der Schnee lockerte sich, blieb aber an Ort und Stelle liegen. Dann hörte sie auf zu scharren und konzentrierte sich auf das Tröpfeln. Eine Flüssigkeit, geschmolzener Schnee oder Speichel oder was auch immer es war, lief ihr von der Nase nach hinten in den Hals. Statt dass der Rotz ihr aus der Nase lief, sickerte er rückwärts.
    Du stehst auf dem Kopf.
    Und da wurde ihr plötzlich mit vollkommener Gewissheit klar, dass sie mit dem Kopf nach unten begraben worden war, und zwar aufrecht. Ihre Füße waren der Schneeoberfläche am nächsten, nicht der Kopf. Was auch bedeutete, dass sie sich durch das Scharren im Schnee noch tiefer nach unten eingegraben hatte, tiefer in den Schnee hinein, statt nach oben und hinaus. Darum rieselte der Schnee auch nicht herunter. Sie hatte in die falsche Richtung gegraben.
    Sie versuchte, die Zehen in den Stiefeln zu bewegen. Minimal konnte sie damit wackeln, doch der Schnee um ihre Beine war so fest zusammengepresst, dass sie sie nicht bewegen konnte. Langsam griff sie sich mit der unbehandschuhten Hand an den Hals und stellte fest, dass sie mit der Hand durch den Schnee bis zu ihrer Brust reichen konnte. Mit ein bisschen Kratzen schaffte sie es, die Hand bis zur Hüfte zu strecken, und der Schnee fiel ihr in Klumpen ins Gesicht. Dann berührte ihre Hand etwas Hartes.
    Ihren Skistock.
    Der Griff des Stocks war etwa auf Hüfthöhe. Sie packte ihn und merkte, dass er genau parallel zu ihrem Oberschenkel lag. Zuerst wollte er sich nicht losmachen lassen, doch mittels kleiner, beharrlicher Sägebewegungen schaffte sie es schließlich, dass der Schnee über ihr zu rieseln begann.
    Sägen. So ist’s fein. Sägen, sägen, sägen. Braves Mädchen. Säge dich aus diesem Sarg frei.
    Ihr Arm verkrampfte sich, und ihre Muskeln zuckten unkontrolliert, aber sie sägte unbeirrt weiter; vor, zurück, vor, zurück. Mit wachsender Anspannung merkte sie, wie der Stock sich an ihrem Skistiefel verhakte. Während sie fast schon wieder in Schnappatmung verfiel, sägte sie beharrlich mit dem Stock vor und zurück, dann fühlte sie ein kleines Plopp, als der Stock die Schneeoberfläche durchbrach. Ein bleistiftdünner Strahl gleißend hellen Sonnenlichts drang in ihr Grab, denn der Stock funktionierte fast wie ein Blitzableiter für die Lichtstrahlen. Etwas Undefinierbares irgendwo zwischen Lachen und Weinen kam ihr blubbernd über die Lippen. Gierig saugte ihre Lunge die eisige Luft ein, und ihr entfuhr ein Schluchzen.
    »Jake! Sonst wer! Hilfe!«
    Immer weiter ruckelte sie an dem Stock wie an einer Säge und versuchte, den schmalen Schacht zu erweitern, der Luft hereinließ, Sonne, Leben. Doch die Anstrengung erschöpfte sie. Als sie kurz aufhörte zu sägen, konnte sie nichts weiter hören als ihre eigene pumpende Lunge; ein kratziges Geräusch, fast wie unter Wasser. Dann bekam sie einen schlimmen Krampf im Arm. Sie versuchte, den Arm zu lockern, doch der Skistock verkeilte sich, und der Plastikteller am unteren Ende schaufelte Schnee in die Öffnung, sodass der dünne Lichtstrahl wieder ausgelöscht wurde.
    Unbeweglich hing sie da und versuchte, gleichmäßig zu atmen, aber sie spürte, wie die Luft in der Blase immer wärmer und dünner wurde. Ihr wurde schwindelig. Ihre Atmung wurde flacher, und dann überkam sie eine schreckliche Gleichgültigkeit, als ihr langsam das Bewusstsein schwand.
     
    Undeutlich hörte sie von irgendwoher ein schwaches Geräusch, wie Finger, die Mehl in eine Schüssel siebten. Es war weit weg. Dann wurde

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