Schneewittchen-Party
hatte, wartete Miranda ein paar Minuten. Dann öffnete sie die Tür, sah vorsichtig hinaus, öffnete die Tür zum Garten und rannte den Weg entlang, der nach hinten zu den ehemaligen Stallungen führte, die jetzt zu Garagen umgebaut waren. Dort schlüpfte sie durch eine kleine Tür in der Mauer auf einen Seitenweg. In einiger Entfernung stand ein geparkter Wagen. Am Lenkrad saß ein Mann mit buschigen grauen Augenbrauen und einem grauen Bart und las die Zeitung. Miranda öffnete die Tür und stieg ein. Sie lachte.
»Sie sehen wirklich ulkig aus.«
»Lach dich nur schief. Nichts hindert dich.«
Das Auto fuhr an, den Weg hinunter, bog rechts ab, dann links, dann wieder rechts und gelangte schließlich auf eine Landstraße.
»Wir schaffen es mit der Zeit«, sagte der graubärtige Mann. »Du wirst die Doppelaxt genau in dem Augenblick sehen, in dem sie gesehen werden muss. Und Kilterbury Ring auch. Ein herrlicher Blick.«
Ein Auto raste so dicht an ihnen vorbei, dass sie fast in die Hecke gedrückt wurden.
»Idioten«, sagte der graubärtige Mann.
Einer der jungen Männer in dem Wagen hatte bis über die Schultern hängendes langes Haar und eine riesige, eulenhafte Brille. Der andere hatte sich mit seinen langen Koteletten mehr ins Spanische stilisiert.
»Und Sie meinen nicht, dass Mami sich Sorgen machen wird?«, fragte Miranda.
»Dazu wird sie gar keine Zeit haben. Wenn sie anfängt, sich Sorgen zu machen, bist du längst dort, wo du sein willst.«
In London ging Hercule Poirot zum Telefon. Mrs Olivers Stimme klang aus dem Hörer.
»Wir haben Miranda verloren.«
»Was soll das heißen: verloren?«
»Wir wollten im ›Schwarzen Buben‹ Mittag essen. Sie ist aufs Klo gegangen und nicht zurückgekommen. Jemand hat gesagt, dass sie mit einem älteren Herrn weggefahren sei. Aber das war sie vielleicht gar nicht. Es kann jemand anders gewesen sein. Es – «
»Es hätte jemand bei ihr bleiben müssen. Sie beide hätten sie nicht aus den Augen lassen dürfen. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Gefahr besteht. Ist Mrs Butler sehr beunruhigt?«
»Natürlich. Was denken Sie denn? Sie ist völlig aufgelöst. Sie will unbedingt die Polizei anrufen.«
»Ja, das wäre das Natürlichste. Ich werde sie auch anrufen.«
»Aber warum soll Miranda denn in Gefahr sein?«
»Wissen Sie das nicht? Das müssten Sie eigentlich langsam.« Er fügte hinzu: »Man hat die Leiche gefunden. Ich habe es gerade gehört – «
»Was für eine Leiche?«
»Eine Leiche in einem Brunnen.«
25
» E s ist herrlich hier«, sagte Miranda und blickte um sich.
Kilterbury Ring war eine lokale Sehenswürdigkeit, obgleich seine Überreste nicht besonders berühmt waren. Sie waren schon vor vielen hundert Jahren abgerissen worden.
Aber hier und da standen immer noch vereinzelt Megalithe und erzählten von lange vergangenen rituellen Zeremonien. Miranda stellte neugierig Fragen.
»Wofür waren all die Steine hier?«
»Für die rituelle Anbetung, der Götter, für rituelle Opfer. Du verstehst doch, was ein Opfer ist, nicht wahr, Miranda?«
»Ich glaube.«
»Es muss sein, weißt du. Es ist sehr wichtig.«
»Meinen Sie, es ist doch keine Art Strafe? Es ist etwas anderes?«
»Ja, etwas anderes. Du stirbst, damit andere leben können. Du stirbst, damit die Schönheit leben kann. Damit sie aufersteht. Das ist wichtig.«
»Ich habe gedacht, vielleicht – «
»Ja, Miranda?«
»Ich habe gedacht, vielleicht müssten eigentlich Sie sterben, weil das, was Sie getan haben, jemand anders getötet hat.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ich habe dabei an Joyce gedacht. Wenn ich ihr nicht etwas Bestimmtes erzählt hätte, dann hätte sie doch nicht zu sterben brauchen, nicht?«
»Vielleicht nicht.«
»Seit Joyce tot ist, mache ich mir Gedanken. Ich hätt’s ihr nicht zu erzählen brauchen, nicht wahr? Ich habe es ihr erzählt, weil ich auch mal was zu erzählen haben wollte. Sie war in Indien gewesen und redete dauernd davon – von den Tigern und den Elefanten und ihren goldenen Schmuckgehängen. Und ich glaube auch – plötzlich wollte ich gern, dass jemand es weiß, weil ich vorher nämlich gar nicht richtig darüber nachgedacht hatte.« Sie fügte hinzu: »War – war das auch ein Opfer?«
»Auf eine Art, ja.«
Miranda blieb nachdenklich und sagte schließlich: »Ist es noch nicht Zeit?«
»Die Sonne steht noch nicht ganz richtig. Noch fünf Minuten vielleicht, dann fällt sie direkt auf den Stein.«
Wieder saßen sie schweigend
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