Schock
liegen könnte, drängte es ihn plötzlich zu wissen, wie er aussah. Er riß die Hände vors Gesicht. Sie zitterten. Wieder sah er sich um, ob jemand das Zittern bemerkt haben könnte. Doch er war noch immer allein. Ganz und gar einsam, und die Einsamkeit gab seiner Angst eine neue Dimension, als wäre er in einen endlosen Albtraum eingekerkert, dazu verdammt, immer wieder die Frage WER BIN ICH? herauszuschreien – und niemand hörte ihn, niemand gäbe Antwort.
Er betastete mit gespreizten Fingern sein Gesicht. Wie es schien, hatte er zwei Augen, eine etwas lange Nase, eine schmale Oberlippe, hohe Wangenknochen – sie schienen ihm hoch, er ertastete sie unmittelbar unter den Augen. Die Haut seiner Wangen schien gespannt, straff; er war unrasiert.
Er nahm die Hände vom Gesicht und betrachtete sie aufmerksam, als wären seine Gesichtszüge deutlich in ihnen abgebildet, und erst jetzt entdeckte er den schweren Goldring am Mittelfinger seiner rechten Hand. Der Ring hatte einen schwarzen Stein, der Stein war gesprungen; doch es gab keine Initialen, kein Hinweis auf der blinkenden, schwarzsplittrigen Oberfläche oder der Goldfassung, der ihm hätte verraten können, was der Ring über die bloße Zierde hinaus zu bedeuten hatte, an was er erinnern sollte. Er versuchte den Ring abzuziehen, bekam ihn aber nicht über den Knöchel. Immer noch auf der Bank sitzend – die Panik war nun der Neugier gewichen, einer eher müßigen Neugier –, steckte er den Finger in den Mund, befeuchtete den Knöchel und zog dann den Ring mit Gewalt ab. Er warf einen Blick in das goldene Rund. Von G.V. war in feiner Schrift darin eingraviert.
Wer ist G.V.? dachte er. Doch dann erheiterte ihn der Gedanke an die zahllosen Möglichkeiten, die in dieser Situation lagen. Er wußte nicht, wer er war, und er wußte nicht, wer G.V. war. Plötzlich fand er es merkwürdig, daß er in dieser ganzen weiten Welt niemanden kannte. Wer ist Präsident Johnson? fragte er sich. Und schon die Logik der Frage gab ihm seine Sicherheit zurück: wußte er, daß Johnson Präsident war, so wußte er auch, wer Johnson war. Er ertappte sich dabei, eine Liste von Namen durchzunehmen, als verteilte er geographische Festpunkte auf einer Karte: Nikita Chruschtschow, Pablo Casals, Sarah Vaughan, Fidel Castro, Tennessee Williams, Marilyn Monroe, Ernest Hemingway; gestorben, dachte er, beide tot. Und dann fragte er sich, ob auch er vielleicht tot wäre.
Wenn ich tot bin, überlegte er, geht es mir nicht schlecht. Was macht's also? Wenn ich tot bin, so heißt das nur, an einem hübschen Frühlingstag im Central Park aufzuwachen; folglich kann das Totsein nicht so schlimm sein. Dann griff er in die Tasche, als hätte er schon lange daran gedacht und bisher nur eine Art verstohlenen Spiels mit sich selbst getrieben, und suchte nach seiner Brieftasche. Daß er sie in der linken Hosentasche trug, wußte er so sicher, wie er wußte, daß er sich im Central Park befand und daß Lyndon Johnson Präsident der Vereinigten Staaten war. Er steckte die Hand in die Tasche und war überzeugt, daß die Brieftasche dort nicht sein würde; trotzdem fühlte er nach und nickte, flüchtig enttäuscht. Dann beklopfte er die anderen Hosentaschen – keine Brieftasche. Entweder hatte er sie verloren oder sie war ihm gestohlen worden – allenfalls eine Erklärung dafür, was er im Central Park zu suchen hatte, an einem Samstagmorgen, an dem …
Samstag.
Er wußte, es war Samstag.
Er saß ganz still auf der Bank und starrte zur Fifth Avenue hinüber, beruhigt von dem Wissen, das er offensichtlich besaß – einem Wissen um Ort und Zeit; es war Samstag. Wieso er wußte, daß es Samstag war, hätte er nicht sagen können, er wußte es eben; doch weshalb hatte er das Gefühl, an diesem Samstagmorgen woanders sein zu müssen? Die Panik war jetzt völlig abgeklungen. Er saß nur gelassen da und starrte ins Weite. Die Suche hatte mit dem Ring an seinem Finger begonnen, dann hatte er in den Hosentaschen nach der Brieftasche gefühlt – er brauchte nur noch die Taschen seines Jacketts durchzustöbern. Er entdeckte, daß er einen dunkelblauen Anzug trug, blaue Socken und schwarze Schuhe. Sein Hemd war weiß, goldene Manschettenknöpfe schauten aus den Jackettärmeln. Er trug eine graue Krawatte mit einer winzigen goldenen Nadel. Einen Hut trug er nicht – es überraschte ihn nicht, er wußte, daß er nie einen Hut getragen hatte. Er fand ein Päckchen L&M-Zigaretten in der Brusttasche
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