Schock
1
Er erwachte.
Er konnte nur ein paar Stunden geschlafen haben; und doch fühlte er sich merkwürdig erfrischt – er erwachte ganz unvermittelt, ohne jenen Übergang in den dämmernden Grenzbereich, aus dem er sich beim Aufwachen gewöhnlich erst lösen mußte. Er wußte genau, wo er war. Zwar schien ihn die Feststellung, daß er einen Straßenanzug trug, zunächst ein wenig zu überraschen; doch dann begriff er, daß man auf einer Holzbank im Central Park wohl nicht im Pyjama schlief. Er setzte sich auf und rieb sich das Gesicht – nicht um Müdigkeit wegzuwischen; eher war es eine Gewohnheitsgeste. Dann warf er einen Blick über den Weg, hinter dessen eisernem Geländer sich der Boden zu einem kleinen See senkte. Der See lief in einen schmalen Finger aus, umgeben von mächtigem Urgestein, weit dahinter der Beton der Fifth Avenue, darüber ein fahlblauer Himmel.
Wer bin ich? fragte er sich.
Die Worte zuckten in funkelnder, nahezu glühender Intensität durch sein Hirn – nur eine Sekunde lang, dann ausgelöscht von ihrer eigenen Absurdität. Er lächelte über den törichten Gedanken; dann lächelte er, weil es ein schöner Tag war. Die Luft war mild und warm; eine erfrischende Brise, an Tropengegenden erinnernd, umspielte ihn. Er überlegte sich, wie spät es sein mochte, warf einen Blick auf sein Handgelenk, entdeckte überrascht, daß er keine Uhr besaß, und fragte sich noch einmal: wer bin ich? Diesmal schien die Frage nicht so absurd. Diesmal zwang sie ihm das Lächeln von den Lippen.
Ich bin …
Er saß da, wartete. Er geriet nicht in Panik. Er saß gelassen auf der Parkbank. Das ist New York City, sagte er sich. Der Central Park. Dort drüben liegt die Fifth Avenue. Ich sehe die Dächer der Gebäude; wer bin ich? Er wartete geduldig, das Wissen lag ihm auf der Zunge. Selbstverständlich wußte er, wer er war; er war …
Er wartete.
Plötzlich fühlte er sich unbehaglich, aber er wußte, er würde nicht in Panik geraten. Das war ein temporäres Versagen, als vergäße man bei einer Party einen Namen, eine simple Störung, momentan, vorübergehend. Er würde deshalb nicht einmal die Stirn runzeln. Gelassen, geduldig saß er da und ließ sein Gedächtnis langsam kreisen, wie ein Tier, das zum Sprung auf ein flinkes Opfer ansetzt, vorsichtig, geräuschlos tappend: ich bin.
Doch der Name kam nicht.
Das ist doch wirklich lachhaft, dachte er, schließlich bin ich …
Wer?
Sein Unbehagen vertiefte sich. Er sah sich verstohlen um, als wäre dieses törichte Versagen, diese unbesonnene, groteske Widrigkeit etwas, das alle Leute sehen konnten. Aber es war niemand da. Er war allein im Park, auf der Bank. Übrigens mußte es noch sehr früh sein; nicht einmal von der Fifth Avenue drangen Verkehrsgeräusche herüber. Das Unbehagen hatte irgendwo im hinteren Teil seines Schädels eingesetzt, nicht in seinem Denken, sondern im Hinterkopf, in der Gegend der medulla oblongata. Medulla oblongata: Biologiekurs I auf der High School – auf welcher High School? Dann hatte es sich über sein Gesicht gebreitet; er spürte, wie es ihm die Haut über den Wangenknochen straffte, dann die Oberlippe erreichte und die Lippen zusammenzog. Es nistete sich in seiner Kehle ein und schoß von dort aus wildflatternd zum Herzen. Er würde nicht in Panik geraten. Er verbot es sich. Doch das Unbehagen, das in seinem Herzen hämmerte, war der Panik schon sehr nahe. Und plötzlich verkrampfte er die Hände.
Hör zu, sagte er sich, du weißt, wer du bist.
Also gut (vorsichtig … fast fürchtete er sich, die Worte noch einmal zu denken, als wüsste er, mit ihnen konfrontiert, daß er abermals keine Antwort bereit hätte, fast weigerten sich die Worte zu kommen … vorsichtig, ganz vorsichtig, nein, es nützte nichts, Tricks anzuwenden, sich selbst zu täuschen) also gut, wer bin ich?
Ich weiß, wer ich bin, dachte er. Ich sitze hier auf einer Bank, im Central Park, dort drüben ist die Fifth Avenue, ich bin in New York City, mein Name ist …
Oh.
O verdammt, dachte er.
Was ist nur heute früh mit mir los? Was soll ich hier? Ich sollte …
Und plötzlich schoß die Panik in sein Herz. Mit scharfer, klarer, zwingender Sicherheit wußte er: er sollte ganz woanders sein und hatte nicht die geringste Ahnung, wo dieses Woanders sein mochte. Er sollte nicht hier sein, er wußte es; und dann, voll Angst, daß sein Herz den Brustkorb sprengen, das Fleisch zerreißen und angsterfüllt pochend auf dem Weg vor der Bank
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