Schöne Khadija
und sagte: »Sie besuchen meine Töchter.«
Er und Tante Safia hatten nur einen Sohn – Suliman –, aber drei Töchter, die alle älter waren als ich. Früher hatten wir die Töchter häufig gesehen, als sie noch in Tante Safias Laden ausgeholfen hatten, aber dort waren sie jetzt nicht mehr. Sie lernten eifrig für ihre Prüfungen.Wenn sie sich freigenommen hatten, um auf meine kleinen Schwestern aufzupassen, dann konnte das nur eines bedeuten.
Onkel Osman war gekommen, um uns etwas Wichtiges zu sagen.
Er sah mich an, während ich darüber nachdachte. Dann meinte er leise: »Wenn du allerdings eine ältere Schwester hättest, dann könnte sie sich um Fowsia, Maryan und Sahra kümmern. Mädchen brauchen eine ältere Schwester, wenn sie aufwachsen.«
Maamo und Tante Safia hielten in ihrer Unterhaltung inne. Als sie weitersprachen, war mir klar, dass sie sich gegenseitig nicht wirklich zuhörten. Sie wollten wissen, was ich Onkel Osman antworten würde. Das war also der Grund seines Besuches.
»Ältere Schwestern tauchen nicht aus dem Nichts auf«, sagte ich.
Onkel Osman sah mich prüfend an. Dann sagte er sehr vorsichtig: »Da ist ein Mann in Somalia – ein guter, schwer arbeitender Mann –, der möchte, dass seine Tochter hier in Großbritannien zur Schule geht. Aber sie hat hier keine Verwandten, die sie aufnehmen könnten. Er hat mich gebeten, eine gute Familie für sie zu finden, in der sie wie eine Tochter behandelt wird … oder wie eine Schwester.«
Jetzt starrten sie mich alle an. Sie mussten das bereits alleine, ohne mich, besprochen haben, aber ich hatte das Gefühl, als läge die Entscheidung bei mir. Als ob sie auf meine Erlaubnis warteten.
»Wie alt ist das Mädchen denn?«, fragte ich.
Onkel Osman zuckte mit den Schultern. »Vielleicht … vierzehn?«
Das hieß, dass sie wahrscheinlich älter war. Ich weiß nicht viel darüber, wie diese Dinge laufen, aber ich weiß, dass jünger besser ist, denn dann hat man mehr Zeit für die Ausbildung. Und man bekommt länger Geld.
»Wer ist sie?«, wollte ich wissen. »Aus was für einer Familie kommt sie?«
Onkel Osman runzelte ganz leicht die Stirn. »Es ist nicht gut, solche Unterscheidungen zu machen. Sie heißt Khadija und sie ist deine Schwester. Wir sind jetzt alle eine Familie. Dein Vater hat das verstanden.«
Wie konnte ich da ablehnen? Er hatte uns nicht des Geldes wegen gewählt, sondern weil er wusste, dass wir die Richtigen waren. Die Frau und die Kinder von Ahmed Mussa Ali.
»Und? Wie lautet deine Antwort?«, fragte Onkel Osman.
Ich hob den Kopf und sah ihm in die Augen.
»Sie kann kommen«, sagte ich. »Sag ihrem Vater, dass wir uns um sie kümmern werden.«
Wenn man zu mir »Somalia« sagt, dann denke ich an den Regen in der roten Wüste, an Staub, der mir an den Beinen hochspritzt, und an Kinder, die vor Freude kreischen, wenn die ersten dicken Tropfen auf den Boden fallen. Ich denke an Kamele, die mit geweiteten Nüstern den Kopf heben. Und an den Geruch der Erde, in der die Samen aufplatzen und aufgehen.
Wenn der Gu-Regen kommt, verändert sich die Welt über Nacht von Rot in Grün, vom Hungerland in frisches, reiches Weideland. Die Bäume breiten ihre Blätter aus und die Tiere werden wieder fett. Es ist, als hätte alles den Atem angehalten. Und plötzlich wird dieser Atem in einem großen, lebensfrohen Seufzer wieder ausgestoßen.
Ich hätte nie geglaubt, dass ich Regen einmal hassen würde.
Mein richtiger Name ist nicht Khadija. Das müsst ihr wissen, bevor ihr meine Geschichte hört. Jetzt, wo ich berühmt bin, glaubt ihr vielleicht, alles über mich zu wissen, aber da irrt ihr euch. Ich bin vor euch verborgen und alles, was ihr gehört habt, ist falsch.
Mein kleiner Bruder Mahmoud nennt mich Geri – Giraffe –, weil ich große Augen und lange Beine habe, aber auch das ist nicht mein Name. Mein wirklicher Name zählt meine Vorfahren auf und reicht dreizehn Generationen zurück. Wenn ihr ihn hören würdet, wüsstet ihr genau, wer ich bin – wenn ihr aus Somalia seid.
Aber es ist vielleicht nicht klug, es euch zu sagen, also verschwendet keine Zeit damit, danach zu fragen. Hört mir einfach zu.
Als ich ein noch ein kleines Mädchen war, galt mein Vater als reicher Mann, mit einer großen Kamelherde, Schafen und Ziegen. Außerdem besaß er Häuser und Geschäfte in Mogadischu und Beledweyne und er reiste von einem Ort zum anderen bis in den Ogaden. Seine zweite Frau wohnte in Mogadischu, aber wir sahen sie
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