Schöne Khadija
England gewesen sein, als ich herausfand, wo Somalia genau liegt. Ganz plötzlich sprang es von der Landkarte und drang in mein Leben ein. Ich erinnere mich noch so genau daran, weil Sandy und ich an diesem Morgen zusammen frühstückten.
Vielleicht klingt das für euch nicht so außergewöhnlich. Vielleicht frühstückt ihr ja jeden Tag zusammen mit eurer Mutter. Aber eure Mutter ist wahrscheinlich auch keine weltweit bekannte Marke. Wahrscheinlich arbeitet sie nicht vierzehn Stunden am Tag und kommt dann mit Kopfschmerzen und einem Haufen von Entwürfen aus dem Atelier zurück.
An normalen Tagen sehe ich Sandy erst abends und manchmal nicht einmal dann. Aber an diesem Morgen war es anders, weil sie gerade erst aus Paris gekommen war – von der dortigen Modewoche und der großen Stoffmesse – und sie saß mir mit einem großen Stapel Bücher gegenüber.
Paris macht sie immer ganz aufgeregt. Wenn sie nach Hause kommt, hat sie immer schon einen Haufen Ideen für ihre nächste Kollektion und breitet sie normalerweise auf dem Frühstückstisch aus. Aber meist sind es dann Fotos und Stoffmuster, keine Bücher. Ich war mir daher nicht sicher, was sie vorhatte.
Sie hatte mich am Abend zuvor auf dem Weg vom Flughafen bei Dad abgeholt. Dad hatte ihr etwas zu essen gemacht, aber das rührte sie kaum an, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt war, seine Bücherregale zu durchstöbern. Ohne ein Wort der Erklärung. Und diese Bücher lagen jetzt zwischen uns auf dem Tisch. Schwere graue Taschenbücher oder gebundene Secondhandbücher mit zerrissenen Einbänden. Während ich an meinem Bagel kaute, legte ich den Kopf schief und las ein paar der Titel.
Die Geschichte Somalias
Bruder gegen Bruder: Krieg in Somalia, Sudan und Ruanda. Was geschah in Somalia?
Nichts davon klang wie etwas, das Sandy lesen würde. Was um alles in der Welt hatte sie nur vor? Ich verrenkte mir noch ein wenig mehr den Hals und versuchte zu erkennen, was für ein Buch sie gerade in den Fingern hatte, aber noch bevor ich die Worte auf dem Buchrücken lesen konnte, sah sie plötzlich auf, ganz rot vor Aufregung.
»Wusstest du, dass es in Somalia Myrrhe gibt?«, fragte sie.
Ich blinzelte. »Tatsächlich? Und Gold und Weihrauch auch?«
»Sei nicht so religiös !«, meinte sie und verzog das Gesicht. Dann sah sie wieder ins Buch und zog die Augenbrauen hoch. »He! Bei Gold bin ich mir nicht so sicher, aber Weihrauch gibt es tatsächlich. Und sieh dir diese Stoffe an! Ich wusste doch, dass ich diese Muster schon einmal gesehen habe.« Sie neigte sich vor, betrachtete ein Bild und reichte mir das Buch dann herüber, um es mir zu zeigen.
Das Bild zeigte Ruin und Zerstörung.
Wie bist du denn drauf, Sandy Dexter? Gut, die Frau im Vordergrund hatte ein großes, bunt gemustertes Kopftuch um und trug ein Häufchen Myrrhe. Aber erwartete Sandy wirklich von mir, dass ichmich darauf konzentrierte? Was war mit den Gebäuden hinter ihr, die voller Einschusslöcher waren? Oder mit dem Jungen im Hintergrund, der ein Gewehr in der Hand hielt?
»Wen interessieren denn die verdammten Stoffe?«, fragte ich.
Sandy schüttelte ungeduldig den Kopf. »Sieh doch! Dieses Tuch ist der einzige Farbtupfer dort. Warum, glaubst du, hat sie so ein buntes Tuch gewählt? Weil es genau das ist, was die Menschen brauchen, wenn es ihnen schlecht geht. Farbe und Muster …« Sie wedelte mit der Hand in der Luft und begann eine ihrer typischen Sandy-Tiraden über die Wichtigkeit von Kleidung.
Ich hasse Mode. Ich hasse es, wie sie das Leben aussaugt und als T-Shirts und Schnittmuster und zehn verschiedene Handtaschen wieder ausspuckt. Wenn man mich fragt, ist der ganze Geschäftszweig überflüssig. Aber Sandy ist da anderer Meinung. Wenn sie über Kleider redet, wird ihr Gesicht ganz ernst und angespannt. Sie behauptet, Mode sei eine Möglichkeit, die Welt zu verstehen. Sie gehört zum menschlichen Leben dazu – und sie gehört genau hierher, an die vorderste Front der Kultur.
Na ja, wenn Mode eine Waffe ist, dann steht sie tatsächlich an vorderster Front und kämpft um alles, was aufgeblasen, selbstgefällig und etabliert ist. Und genau das macht sie zu einer Ikone. Selbst meine Freundin Ruby bekam große Augen, als sie unsere Verbindung erkannte.
»Das heißt, deine Mutter ist – Sandy Dexter ?«
Ja, genau. Vielleicht bin ich nicht die Stilikone an unserer Schule, aber ich bin die Tochter von Sandy Shocking Dexter, der Modezarin par excellence , der Designerin, die
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