Schöne Neue Welt
Sigmund
unsicher auf den Be inen, die plötzlich keine Knochen, Sehnen und Muskeln mehr zu haben schienen, sondern aus Gallert, zuletzt nicht einmal mehr daraus, aus Wasser bestanden, und brach, ein armseliges Häufchen, zusammen.
Und auf einmal begann aus dem Synthetofon eine Stimme zu sprechen. Die Stimme der Vernunft und der Eintracht. Auf dem Tonband lief die synthetische Aufruhrbeschwichtigung Nummer 2 (mittlere Stärke) ab. Unmittelbar aus der Tiefe eines nicht vorhandenen Herzens sagte die Stimme pathetisch: »Meine Freunde, meine Freunde«, sagte das mit so unendlich zartem Vorwurf, daß selbst den Polizisten hinter ihren Gasmasken für eine Sekunde die Tränen in die Augen traten. »Was soll das alles?
Warum seid ihr nicht allesamt glücklich und gut miteinander?
Glücklich und gut«, wiederholte die Stimme. »In Frieden, in Frieden.« Sie bebte, sank zu einem Flüstern herab und erstarb für einen Augenblick. »Oh, wie möchte ich euch so gerne glücklich sehen«, begann sie von neuem mit sehnsüchtig
eindringlichem Ernst. »Wie gerne sähe ich euch gut! Ich bitte euch, ich bitte euch, seid gut und -«
Nach zwei Minuten hatten die Stimme und die Somadämpfe
ihre Wirkung getan. Unter Tränen küßten und umarmten die Deltas einander, immer ein halbes Dutzend Simultangeschwister auf einmal in einer großen Umarmung.
Sogar Helmholtz und der Wilde waren den Tränen nahe.
Ein neuer Vorrat Pillenschachteln wurde aus der
Somakammer gebracht, in aller Eile verteilt, und unter den überströmenden Segenswünschen der Stimme zerstreuten sich die herzzerbrechend schluchze nden Dutzendlinge.
-217-
»Lebt wohl, meine über alles geliebten Freunde, Ford sei mit euch! Lebt wohl, meine über alles geliebten Freunde, Ford sei mit euch! Lebt wohl, meine über alles -«
Als der letzte Delta verschwunden war, schaltete der Polizist den Strom ab. Die Engelsstimme schwieg.
»Wollen Sie gutwillig mitkommen«,
fragte der
Polizeisergeant, »oder müssen wir Sie betäuben?« Drohend wies er seine Spritzpistole vor.
»Ach, wir kommen gutwillig mit«, antwortete der Wilde und betupfte sich mit dem Taschentuch abwechselnd einen Riß in der Lippe, eine Schramme am Hals und einen Biß in der linken Hand.
Das Taschentuch noch immer an die blutende Nase gedrückt, nickte Helmholtz zustimmend.
Diesen Augenblick suchte sich Sigmund, wieder zu
Bewußtsein und dem Gebrauch seiner Beine gelangt, dazu aus, sich möglichst unauffällig davonzumachen.»Heda, Sie!« rief der Sergeant, und eine Schweinsmaske eilte durch die Vorhalle und legte Sigmund die Hand auf die Schulter.
Sigmund wandte sich in entrüsteter Unschuld um.
Durchbrennen? Nicht im Traum hatte er daran gedacht.
»Und was Sie überhaupt ausgerechnet von mir wollen, kann ich mir nicht vorstellen«, sagte er zu dem Sergeanten.
»Sie sind mit den Verhafteten befreundet, nicht wahr?«
»Nun, ja...«, sagte Sigmund zögernd. Nein, es ließ sich einfach nicht leugnen. »Und warum auch nicht?« fragte er.
»Dann vorwärts!« befahl der Sergeant und eskortierte die drei durch das Tor zu dem wartenden Polizeiwagen.
-218-
Sechzehntes Kapitel
Die drei wurden in das Arbeitszimmer des Weltaufsichtsrats geführt.
»Seine Fordschaft wird gleich erscheinen.« Der Gammadiener ließ sie allein.
Helmholtz lachte laut.
»Das sieht ja eher nach einem Koffeinersatzkränzchen als nach einem Verhör aus«, sagte er und ließ sich in den üppigsten pneumatischen Sessel des Zimmers fallen.
»Kopf hoch, Sigmund!« rief er beim Anblick der grünlichen Jammermiene seines Freundes. Aber Sigmund ließ sich nicht aufheitern; wortlos, sogar ohne einen Blick auf Helmholtz, suchte er sich mit Vorbedacht den unbequemsten Stuhl aus, in der unbestimmten Hoffnung, dadurch irgendwie den Zorn der höheren Mächte zu besänftigen.
Unterdessen wanderte der Wilde rastlos durchs Zimmer,
besah mit flüchtiger Neugier die Bücher auf den Regalen, die Tonbandrollen und die Lesemaschinenspulen in ihren
bezifferten Fächern. Auf einem Tisch am Fenster lag ein dickes Buch, in mattschwarzen Lederersatz mit eingepreßten goldenen TS gebunden. Er nahm es zur Hand und schlug das Titelblatt auf. »Mein Leben und Werk. Von Ford dem Herrn.«
Herausgegeben war es von der Gesellschaft zur Förderung
Fordlichen Fortschritts in Detroit.
Müßig blätterte er, las eine Zeile hier, einen Absatz da und war gerade zu dem Schluß gekommen, daß das Buch ihn nicht interessierte, als sich die Tür öffnete und
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