Schoenhauser Allee
Großhandel mit rotem Kaviar hat er auch mal betrieben: »Wer mehr als 100 Kilo Kaviar bei uns kauft, bekommt eine Packung Elektrobatterien umsonst«, stand in seiner Annonce. Der Mann war so gut wie nie zu Hause, dafür aber der komplette Castaneda – auf dem Bücherregal. Er wurde zu einem echten Familienmitglied und Gesprächspartner für Katja. Während die anderen nur mit ihren eigenen Problemen beschäftigt waren, hatte Carlos für Katja immer Zeit. Sie wurden dicke Freunde. Später, in der Nervenklinik des Königin-Elisabeth-Krankenhauses, in die Katja dann eingeliefert wurde, fing sie sogar an, Briefe an Castaneda zu schreiben. Er schrieb nie zurück, rief aber manchmal in der Nacht an. Katja schlief deswegen kaum noch. Wie gebannt starrte sie die ganze Nacht auf das Telefon.
Lieber Carlos,
schrieb sie ihm eines Tages,
mit deiner Hilfe habe ich andere, bessere Welten entdeckt. Dort habe ich viele interessante Menschen kennen gelernt und spannende Abenteuer erlebt. Nun bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich meine äußere Hülle nicht mehr brauche. Ich will endgültig umziehen. Wäre das für dich ein Problem?
Ruf mich bitte an,
Deine Katja.
Carlos rief um drei Uhr nachts an und war stinksauer auf Katja. Er schrie sie an. Zum Glück war Katja diese Nacht allein auf der Station, die anderen Betten waren gerade frei.
»Du blöde Kuh!«, randalierte Carlos am Telefon, »du hast noch immer nichts verstanden. Wenn die Verbindung zwischen deinem Geist und deiner äußeren Hülle unterbrochen wird, wirst du den grünen Nebel nicht mehr sehen können. Dann schaltet sich die Quelle des Geistes einfach ab. Also, du darfst auf keinen Fall umziehen, Idiotin!«
Katja fühlte sich durch die Schimpfwörter von Carlos beleidigt. »Das werden wir noch sehen«, sagte sie bockig und legte auf. Um sechs Uhr kam die Schwester und brachte ihr das Frühstück. Aber Katja war nicht mehr da. Nur ihre etwas verknüllte Hülle lag noch neben dem Bett.
Das Wetter auf der Schönhauser Allee
In Moskau lebte ich auf der Akademiker-Pawlow-Straße, benannt nach dem berühmten Verhaltensforscher und Hundeliebhaber. Es war nach Moskauer Standard eine relativ kleine Straße – ungefähr zehn Kilometer lang. Es gab dort eine grüne und eine weiße Grundschule, ein gelbes Irrenhaus, ein Studentenwohnheim des Medizinischen Instituts, einen mittelgroßen Wald, ein Kino namens »Brest«, ein Krankenhaus, ein Krematorium und den Parkplatz einer Kooperative mit einem einzigen Auto darauf; dem alten Wolga unseres Nachbarn Onkel Andrej. Außerdem befanden sich noch drei Einkaufsläden in unserer Straße: ein riesengroßes Geschäft namens »Fäden«, dann die stinkenden »Gaben des Meeres« und der Pavillon »Getränke«, vor dem sich schon morgens um halb acht eine Menge durstiger Männer und Frauen drängelte. Damals fand ich das Geschäft »Fäden« total abgefahren, weil es dort außer lauter verschiedenen Fäden nichts gab. Ich war sogar ein wenig stolz, in der Nähe eines solchen Unsinns zu wohnen und erzählte immer gerne davon – bis ich Jahre später in Wolgograd ein drei Stockwerke hohes Kaufhaus namens »Streichhölzer« entdeckte.
Als Kind ging ich zur grünen Schule. Ich musste acht Jahre lang täglich am »Getränke«-Pavillon vorbei, und dann noch durch den Wald, den die »Getränke«-Stammgäste zu ihrer Kneipe gemacht hatten. Auf dem Weg zur Schule habe ich damals mehr gelernt als in der Schule selbst. Die Akademiker-Pawlow-Straße war eine relativ ruhige Gegend, die Kinder spielten immer draußen. Die Eltern brauchten keine Angst zu haben, dass ihre Brut unter die Räder kam. Für den Autoverkehr war die Straße ungeeignet; es konnte nämlich immer nur ein Wagen den Akademiker-Pawlow entlangfahren – kam ihm ein zweiter entgegen, krachte es. Weit und breit gab es keine bissigen Hunde, dafür aber eine Unmenge hungriger Katzen, die sich vor den »Gaben des Meeres« versammelten. Im Wald konnte man für dreißig Kopeken ein Glas Portwein unter den Bäumen erwerben. Egal, ob Winter oder Sommer, die Akademiker-Pawlow-Straße sah immer gleich aus, man hatte das Gefühl, die Zeit sei hier stehen geblieben. Die jammernden Katzen, die Waldsäufer, der alte kaputte Wolga auf dem Parkplatz, so ist sie in meiner Erinnerung geblieben.
Ganz anders meine jetzige Wahlheimat nun, die Schönhauser Allee. Sie verändert sich alle zwei Stunden, und ist total von der Außentemperatur abhängig. Steigt die Temperatur, geht sofort ein
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