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Schoenhauser Allee

Titel: Schoenhauser Allee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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gefeiert. Ich entgegnete ihm, dass es gerade im Kapitalismus alles umsonst gäbe und dadurch die Jugend hier so romantisch verträumt erzogen würde. Schließlich gingen wir in die »Schönhauser Arcaden«, um festzustellen, was es im Kapitalismus alles umsonst gab.
    Anfänglich war mein Freund noch ziemlich misstrauisch. Aber schon nach einer Stunde hatte ihn das Spiel vollkommen mitgerissen. Unsere Recherche war ein voller Erfolg: Wir waren beide schwer mit allen möglichen Sachen beladen. Juri hatte einen großen gelben Luftballon, eine Schachtel mit Buntstiften, fünf Papierteller, einen Lutscher und eine Probe Antifaltencreme von
Shiseido
abgestaubt. Ich eroberte an dem Tag etwa 200 Gramm Mettwurst, einen grünen Luftballon, fünf Zigaretten der Sorte
Kabinett mild
, eine Probe des Parfüms
Escada
und eine halbwarme Brezel. Es war also ein gelungener Feldzug. Wir waren zwar müde, aber unser Konsumrausch noch nicht verflogen, als in der Dunkelheit ein Lieferwagen mit der Überschrift »Frische Cookies« an uns vorbeifuhr. Der Fahrer hupte und schrie jemandem hinterher: »Bist du bescheuert?«
    Das brachte Juri auf eine Idee: »Lass uns auf einen Kaffee im Burger King vorbeischauen. Dort können wir eventuell noch eine Pappkrone und eine kleine Fahne umsonst bekommen.« Wir gingen hin. Quer über die Dänenstraße versuchte ein riesengroßer amerikanischer Ford aus den Siebzigerjahren falsch einzuparken. Plötzlich stand uns die Kiste im Weg. Der Motor ging aus. Ein alter Mann stieg aus dem Wagen, knallte die Tür zu, dabei fiel der Griff ab. Der Fahrer hatte lange graue Haare, die nach hinten gekämmt waren, trug eine Armeejacke und schwarze Lederstiefel. In der einen Hand hielt er einen Stadtplan, mit der anderen machte er seine Hose auf und pisste unter seinen eigenen Wagen. »Oh God«, stöhnte er währenddessen. Dabei schaute er uns an.
    »Bukowski«, sagten wir beide gleichzeitig. Die Ähnlichkeit war frappierend.
    »Hallo Jungs!«, hustete uns Bukowski an, »ich kreise schon seit zwei Stunden in dieser Gegend herum und komme einfach nicht aus der verfluchten Stadt raus. Kennt ihr euch hier aus?«
    Zwei fremde Männer, die mit Luftballons in verschiedenen Farben durch die Nacht galoppierten, einfach so anzusprechen, machte ihm überhaupt nichts aus. Ich glaube, er hat uns gar nicht richtig angesehen. Genauso hatte ich mir Bukowski immer vorgestellt. Wir warteten, bis der Mann mit dem Pissen fertig war, dann zeigte Juri ihm, wie man auf dem kürzesten Weg von der Schönhauser Allee nach Potsdam kommt. Der Schriftsteller sagte nicht einmal »Danke schön«. Er stieg wieder in sein Auto, ließ den Motor an und gab Gas. Nachdem er verschwunden war, hob Juri, ein großer Bukowski-Fan, den Türgriff von der Straße auf und packte ihn zu seinen Gratiseroberungen.
    »Das werde ich mir zur Erinnerung an dieses wunderbare Treffen zu Hause an die Wand nageln«, meinte er und biss ein Stück von meiner Brezel ab.

Bücher aus dem Mülleimer
    Je größer eine Familie ist, desto mehr Abfall produziert sie. Als meine Frau Olga unser zweites Kind zur Welt brachte, mussten wir von den haushaltsüblichen 20-Liter-Müllsäcken auf die riesengroßen 50-Liter-Monster umsteigen. Doch selbst die bekamen wir immer schnell mit allem möglichen Zeug voll.
    Gewöhnlich renne ich abends, wenn es dunkel wird, fünf Treppen runter auf den Hof, wo unsere Müllcontainer stehen. Oft komme ich zu spät: Alle Container sind bereits voll. Alle Großstädter sind mehr oder weniger professionelle Müller. Es gehört einfach dazu. Letztens war der Container mit lauter Büchern überfüllt. Eine halbe Hausbibliothek lag da drin. Bestimmt ist wieder einer aus dem Haus weggezogen, dachte ich. Aus Neugier kippte ich den Container um. Ich wollte erforschen, von welchem Kulturgut sich der zeitgenössische Leser zu Beginn des neuen Jahrtausends verabschiedete. Die so genannte Politliteratur, die zirka ein Drittel des Bestands der Mülleimerbibliothek ausmachte, packte ich gleich wieder in den Container zurück.
Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie in der DDR
vom Leipziger Reclam Verlag, Lenins
Staat und Revolution, Stilistische Grundtendenzen zu Lenins Sprache
aus dem Verlag Volk und Welt, Berlin 1970. Zu frisch sind noch die Erinnerungen an die Zeiten, die mit solchen Werken verbunden waren. Es müssen erst noch ein paar Generationswechsel stattfinden, ehe man ohne Verdruss und Vorurteile eines dieser Bücher wieder in die Hand nehmen kann.

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