Schönheit der toten Mädchen
er einen flüchtigen Häftling deckte und nicht einen blutrünstigen Mörder. Als ihm jedoch klar wurde, wen er schützte, bekam er einen Schreck. Er bewahrte einen geladenen Revolver neben seinem Bett auf. Denn er hatte Angst vor Ihnen, Sozki. Nach den Morden in der Granatny-Gasse kehrten Sie auf den Friedhof zurück und sahen Tulpow, der Sacharows Wohnung beobachtete. Der Wachhund schlug bei Ihrem Kommen nicht an, weil er Sie kannte. Tulpow war von seinen Beobachtungen so in Anspruch genommen, daß er Sie nicht bemerkte. Sie begriffen, daß der Verdacht auf den Arzt gefallen war, und beschlossen, sich das zunutze zu machen. Bevor Tulpow starb, teilte er in seinem Bericht mit, daß Sacharow kurz nach zehn das Zimmer verließ und daß gleich darauf aus dem Korridor ein Poltern ertönte. Offensichtlich geschah in diesem Augenblick der Mord. Sie waren lautlos ins Haus eingedrungen und hatten gewartet, bis Sacharow in den Korridor kam. Nicht zufällig ist dort der Läufer verschwunden. Sie haben ihn weggeschafft, weil Blutspuren darauf waren. Nachdem Sie Sacharow getötet hatten, schlichen Sie sich leise hinaus, fielen von hinten über Tulpow her, verwundeten ihn tödlich und ließen ihn liegen, damit er verblutete. Ich nehme an, Sie haben gesehen, wie er aufstand, wie er zum Tor wankte und wieder hinfiel. Zu ihm hinzugehen und ihm den Rest zu geben,hatten Sie Angst, denn Sie wußten, daß er bewaffnet war, und Sie wußten auch, daß die ihm beigebrachten Verletzungen tödlich waren. Ohne Zeit zu verlieren, schleppten Sie Sacharows Leichnam weg und vergruben ihn auf dem Friedhof. Ich weiß sogar, wo: Sie warfen ihn in den Aprilgraben für nicht identifizierte Personen und schaufelten etwas Erde darüber. Übrigens, wissen Sie, wodurch Sie sich verraten haben?«
Sozki schreckte hoch, und sein erstarrter, entrückter Gesichtsausdruck wich wieder der Neugier, aber nur für einen Augenblick. Dann senkte sich erneut der unsichtbare Vorhang und löschte jede Spur von lebendigen Gefühlen.
»Als ich gestern morgen mit Ihnen sprach, sagten Sie, Sie hätten die ganze Nacht nicht geschlafen, Sie hätten die Schüsse gehört, dann das Zuschlagen einer Tür und das Geräusch von Schritten. Daraus sollte ich schließen, daß Sacharow lebt und sich versteckt hat. Doch ich habe etwas anderes daraus geschlossen. Wenn der Wärter Pachomenko ein so feines Gehör hat, daß er auf eine ziemliche Entfernung Schritte hören kann, wieso hat er dann nicht die Trillerpfiffe des wieder zu sich gekommenen Tulpow gehört? Die Antwort ist einfach: Sie waren zu diesem Zeitpunkt nicht im Wärterhäuschen, nicht in der Nähe des Tors. Sie waren wahrscheinlich am anderen Ende des Friedhofs, wo nämlich der Aprilgraben liegt. Erstens. Wenn Sacharow der Mörder gewesen wäre und durch das Tor hätte fliehen wollen, hätte er dort den verwundeten bewußtlosen Tulpow liegen sehen, und er hätte ihn getötet. Zweitens. Auf diese Weise erhielt ich die Bestätigung, daß Sacharow, der erwiesenermaßen nicht der Londoner Serienmörder war, auch mit Tulpows Tod nichts zu tun hatte. Sein Verschwinden konnte nur eins bedeuten – er war getötet worden. Und als Sie die Unwahrheit über dieUmstände seines Verschwindens sagten, wußte ich, daß Sie damit zu tun hatten. Mir fiel auch ein, daß beide ›Ideen‹-Morde – an der Prostituierten Andrejitschkina und an der Bettlerin – in der Nähe des Friedhofs verübt worden waren, fünfzehn Minuten zu Fuß entfernt. Darauf war als erster Ishizyn aufmerksam geworden, freilich hat er daraus die falschen Schlüsse gezogen. Als ich diese Fakten mit den Satzfetzen aus dem verschwundenen Brief verglich, war ich fast sicher: Der ›alte Kamerad‹, mit dem Sacharow Mitleid hatte und den er nicht verraten wollte, das waren Sie. Als Friedhofswärter waren Sie an der Exhumierung der Leichen beteiligt und wußten viel über den Stand der Ermittlungen. Erstens. Sie waren bei dem ›Untersuchungsexperiment‹ anwesend. Zweitens. Sie hatten Zugang zu den Gräbern und Gräben. Drittens. Sie kannten Tulpow, hatten sich sogar mit ihm angefreundet. Viertens. In seiner Beschreibung der Zeugen des ›Experiments‹, die Tulpow kurz vor seinem Tod verfaßte, charakterisierte er Sie folgendermaßen.«
Fandorin trat zum Tisch, nahm ein Blatt auf und las vor: »Pachomenko, der Friedhofswärter. Vor- und Vatersnamen kenne ich nicht, die Arbeiter nennen ihn ›Pachom‹. Sein Alter ist schwer zu schätzen: zwischen dreißig und fünfzig.
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