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Schönheit der toten Mädchen

Schönheit der toten Mädchen

Titel: Schönheit der toten Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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ich ins Gefängnis, aber ich floh jedesmal, was nach meiner Flucht aus der Chersoner Festung ein leichtes war. Schließlich fand ich eine gute Arbeit. In Whitechapel in London, auf dem Schlachthof. Ich wurde Fleischhauer. Hier kamen mir meine chirurgischen Kenntnisse zugute. Ich genoß Ansehen, verdiente gut und legte Geld auf die hohe Kante. Aber wieder reifte etwas in mir, wenn ich einen schön zerteilten Labmagen betrachtete, eine Leber, die für die Wurstherstellung gewaschenen Därme, die Nieren, die Lungen. Diese Innereien wurdenin Tüten abgepackt und in die Fleischläden gefahren, um auf den Ladentischen schön ausgelegt zu werden. Warum setzt sich der Mensch selbst so herab, dachte ich. Ist denn ein dumpfer Rinderbauch, der grobes Gras verdaut, eher der Achtung würdig als unser innerer Apparat, der nach Gottes Ebenbild geschaffen wurde? Die Erleuchtung kam mir vor einem Jahr, am 3. April. Ich war nach der Abendschicht auf dem Heimweg. In einer menschenleeren Gasse, in der keine Laterne brannte, sprach mich eine garstige Vettel an und erbot sich, mit mir in einen Torweg zu gehen. Als ich höflich ablehnte, trat sie ganz dicht an mich heran, hauchte mir ihren schmutzigen Atem ins Gesicht und stieß gemeine Flüche hervor. Was für eine Verhöhnung von Gottes Ebenbild, dachte ich. Weshalb mühen sich Tag und Nacht ihre inneren Organe, weshalb pumpt das unermüdliche Herz das kostbare Blut, warum entstehen und vergehen und erneuern sich immer wieder Myriaden Zellen ihres Organismus? Und mich überkam der übermächtige Wunsch, Häßlichkeit in Schönheit zu verwandeln, das wahre Wesen dieser Kreatur zu erschauen, die so greulich aussah. An meinem Gürtel hing ein Fleischermesser. Später kaufte ich mir einen ganzen Satz vorzüglicher Skalpelle, aber beim erstenmal tat es auch ein gewöhnliches Fleischermesser. Das Resultat übertraf alle meine Erwartungen. Das gräßliche Weib verwandelte sich! Vor meinen Augen wurde sie wunderschön! Und ich erstarb andächtig vor diesem so offensichtlichen Beweis des Göttlichen Wunders!«
    Der Angeklagte bekam feuchte Augen und wollte fortfahren, winkte aber ab und sagte kein Wort mehr. Seine Brust hob und senkte sich rasch, seine Augen blickten begeistert himmelwärts.
    »Reicht dir das?« fragte Fandorin. »Sprichst du ihn schuldig?«
    »Ja«, flüsterte Angelina und bekreuzigte sich. »Er ist schuldig, all diese Untaten begangen zu haben.«
    »Du siehst selbst, daß er nicht leben darf. Er bringt Tod und Leid. Er muß vernichtet werden.«
    Angelina schreckte hoch.
    »Nein, Erast Petrowitsch. Er ist wahnsinnig. Er muß behandelt werden. Ich weiß nicht, ob das gelingt, aber man muß es versuchen.«
    »Nein, er ist nicht wahnsinnig«, entgegnete Fandorin überzeugt. »Er ist schlau, berechnend, verfügt über einen eisernen Willen und einen beneidenswerten Unternehmungsgeist. Vor dir sitzt kein Geisteskranker, sondern eine Mißgeburt. Es gibt Menschen, die mit einem Buckel oder einer Hasenscharte geboren werden. Und es gibt Menschen, deren Mißbildung man nicht ohne weiteres sieht. Diese Mißbildung ist die schlimmste. Er ist nur dem Aussehen nach ein Mensch, aber ihm fehlt das, was einen Menschen ausmacht. Er hat nicht diese unsichtbare Saite, die selbst in der Seele des abgefeimtesten Verbrechers schwingt und klingt. Selbst wenn sie nur schwach, kaum hörbar ihre Stimme erhebt, weiß doch der Mensch im Innern seiner Seele, ob er gut oder unrecht gehandelt hat. Er weiß es immer, auch wenn er kein einziges Mal im Leben auf diese Saite hört. Du kennst Sozkis Taten, du hast seine Worte gehört, du siehst ihn vor dir. Er ahnt nicht einmal etwas von dieser Saite, er folgt einer ganz anderen Stimme. Im Altertum hätte man gesagt, daß er ein Diener des Teufels ist. Ich sage es einfacher: Er ist ein Unmensch. Er bereut nichts. Und mit gewöhnlichen Mitteln kann man ihm nicht Einhalt gebieten. Er kommt nicht aufs Schafott, und die Mauern einesIrrenhauses können ihn nicht festhalten. Dann beginnt alles wieder von vorn.«
    »Erast Petrowitsch, Sie haben doch vorhin gesagt, daß die Engländer ihn haben wollen«, rief Angelina kläglich, als klammere sie sich an den letzten Strohhalm. »Sollen die ihn töten, aber nicht du, Erast. Nicht du!«
    Fandorin schüttelte den Kopf. »Eine Auslieferung ist langwierig. Er wird fliehen, aus dem Gefängnis, aus dem Zug, vom Schiff. Ich kann das nicht riskieren.«
    »Du vertraust nicht auf Gott«, sagte Angelina traurig. »Gott weiß, wie und

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