Schönheit der toten Mädchen
Er ist größer als mittelgroß, von gedrungener Gestalt. Er hat ein rundes, sanftes Gesicht, trägt keinerlei Bart. Spricht mit kleinrussischem Akzent. Ich hatte mit ihm mehrere Gespräche über die unterschiedlichsten Themen. Er erzählte mir Geschichten aus seinem Leben (er hat als Pilger viel gesehen), und ich erzählte ihm von mir. Er ist klug, religiös, gütig, hat eine gute Beobachtungsgabe. Er war mir eine große Hilfe bei der Ermittlung. Wahrscheinlich ist er der einzige von allen, an dessen Unschuld kein Zweifel bestehen kann.«
»Der liebe Junge«, sagte der Angeklagte gerührt. Bei diesen Worten zuckte es in Fandorins Gesicht, und der leidenschaftslose Bewacher flüsterte auf japanisch etwas Scharfes, Pfeifendes.
Auch Angelina fuhr zusammen und blickte entsetzt zu dem Sitzenden.
»Tulpows Offenherzigkeit kam Ihnen am Freitag zustatten, als Sie in seine Wohnung eindrangen und den Doppelmord verübten«, fuhr Fandorin nach einer Pause fort. »Was meine eigenen … Familienumstände betrifft, so wissen viele davon, und Sie können sie von Sacharow erfahren haben. Also, heute, genauer, nun schon gestern morgen gab es für mich nur noch einen Verdächtigen – Sie. Blieb zu klären: erstens das Äußere Sozkis, zweitens, ob er wirklich umgekommen war, und schließlich mußte ich Zeugen finden, die Sie identifizieren könnten. Den früheren Sozki, wie er vor sieben Jahren aussah, hat mir Stenitsch beschrieben. Wahrscheinlich haben Sie sich in den sieben Jahren stark verändert, aber Körpergröße, Augenfarbe und Nasenform ändern sich nicht, und alle diese Besonderheiten stimmten überein. Die Depesche aus dem militärgerichtlichen Departement, in der Einzelheiten über Sozkis Haft und seine angeblich mißlungene Flucht stehen, zeigte mir, daß der Häftling durchaus noch am Leben sein kann. Nun zu den Zeugen. Ich setzte große Hoffnungen in den ehemaligen ›Sadisten‹ Filipp Rosen. Als in meinem Beisein von Sozki geredet wurde, sprach er die rätselhaften Worte, die sich in meinem Gedächtnis festsetzten: ›In letzter Zeit sehe ich ihn dauernd, gestern zum Beispiel …‹ Der Satz blieb unbeendet, Rosen wurde unterbrochen. Aber ›gestern‹, das heißt, am Abend des 4. April, war Rosen zusammen mit den anderen bei Sacharow imLeichenschauhaus gewesen. Ich dachte: Vielleicht hat er dort zufällig den Wärter Pachomenko gesehen und Ähnlichkeiten mit dem alten Bekannten entdeckt? Leider konnte ich Rosen nicht auftreiben. Aber ich habe die Prostituierte gefunden, die Sie vor sieben Wochen umzubringen versuchten, in der Butterwoche. Sie erinnert sich gut an Sie und kann Sie identifizieren. Ich hatte also genug Beweise, um Sie zu verhaften. Das hätte ich auch getan, wären Sie nicht selbst zum Angriff übergegangen. Ich begriff, daß man solche wie Sie nur auf eine Weise stoppen kann …«
Der drohende Sinn dieser Worte schien Sozki nicht zu erreichen. Jedenfalls zeigte er nicht das geringste Anzeichen von Beunruhigung, im Gegenteil, er lächelte irgendwelchen Gedanken nach.
»Ach ja, da war noch das Briefchen, das Burylin überbracht wurde«, erinnerte sich Fandorin. »Eine ziemlich ungeschickte Demarche. In Wirklichkeit war es für mich bestimmt, nicht wahr? Sie mußten uns davon überzeugen, daß Sacharow lebte und sich versteckt hielt. Sie versuchten sogar, einige charakteristische Besonderheiten seiner Schrift nachzuahmen, bestärkten mich damit aber nur in der Überzeugung, daß der Verdächtige kein unbedarfter Wärter ist, sondern ein gebildeter Mann, der Sacharow gut kennt und auch Burylin. Das heißt, er ist Sozki. Auch Ihr Anruf, bei dem Sie sich als Sacharow ausgaben und sich die Unvollkommenheit des modernen Telephons zunutze machten, konnte mich nicht täuschen. Ich habe diesen Trick selbst schon angewendet. Auch Ihr Plan war mir klar. Sie handelten immer nach derselben ungeheuerlichen Logik: Wenn jemand Sie interessierte, töteten Sie denjenigen, der diesem Menschen am nächsten stand. So verfuhren Sie mit Tulpows Schwester. So wollten Sie mitder Tochter der Prostituierten verfahren, die Ihr entartetes Interesse weckte. Sie erwähnten bei dem Anruf mehrmals den japanischen Diener, denn Sie wollten, daß er mich begleitet. Warum? Nur aus dem einen Grund: Angelina Samsonowna sollte allein zu Hause sein. Ich möchte nicht daran denken, was für ein Schicksal Sie ihr zugedacht hatten. Sonst kann ich mich nicht beherrschen und …«
Er unterbrach sich und wandte sich heftig an Angelina: »Wie
Weitere Kostenlose Bücher