Schrei Aus Der Ferne
Haar, ein wenig zerstreut, was ihn wie einen Philosophieprofessor im Ruhestand wirken ließ, und ihre Mutter, grauhaarig, pummelig, ein nervöses Lächeln für alles und jeden. Als sie Ruth sahen, begannen beide zu weinen. Ihr Vater schämte sich und sah weg, ihre Mutter streckte beide Arme aus, um sie unbeholfen zu umarmen.
Andrew stand nervös da, war darauf vorbereitet, Tee oder vielleicht sogar Sherry anzubieten, und machte sich Sorgen, dass die Ankunft ihrer Eltern Ruth noch stärker verstören würde.
Nach einer Stunde oder so war praktisch alles gesagt, was gesagt werden konnte. Alle vier saßen in unbehaglicher Stille im Wohnzimmer, während draußen der Tag schwand.
Unvermittelt stand Ruths Mutter auf und räumte das Geschirr zusammen, um es in die Küche zu bringen. Andrew fragte Ruths Vater, ob er gerne einen Blick auf den Gartenwerfen würde, wo immer noch etwas blühte – ganz außergewöhnlich für diese Jahreszeit. Anita Chandra kam mit den letzten Ausgaben der Zeitungen ins Haus zurück; eine der Boulevardzeitungen hatte Beatrices Verschwinden mit dem Tod von Heather Pierce vor dreizehn Jahren in Verbindung gebracht.
Die doppelte Tragödie einer Mutter
, lautete die Schlagzeile über einem Foto von Ruth, das bei ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus geschossen und zu einer verschwommenen Nahaufnahme vergrößert worden war: Ihr Mund stand offen und die Augen waren dunkel vor Tränen. Dasselbe Foto erschien auf der Titelseite mehrerer anderer Zeitungen, die alle darum wetteiferten, mit dem Knüller der Konkurrenz gleichzuziehen.
Es war ein Wunder, dachte Anita, dass es so lange gedauert hatte, bis die Geschichte ans Licht gekommen war. Jetzt würde das Haus noch heftiger belagert werden, unaufhörlich würde das Telefon läuten, die Zahl der Reporter und Kameramänner da draußen würde sich erhöhen, die Bitten um Interviews noch penetranter werden, und das Pressebüro würde sich größte Mühe geben müssen, um den Ansturm zu bewältigen.
»Nein«, sagte Andrew wütend, »ich habe es bereits gesagt und ich sage es noch einmal. Ich bin nicht dazu bereit, dass meine Frau vor der Kamera erscheint und von Millionen angegafft wird, als wäre das alles eine grässliche Reality-Show.«
Ruth sagte gar nichts, nickte zustimmend, nahm noch eine Pille. Erschöpft von der Reise gingen ihre Eltern früh schlafen; sie waren im Gästezimmer untergebracht worden.
Um halb zwei war Ruth wieder wach und betrachtete ihr verhärmtes und blasses Gesicht im Badezimmerspiegel. Fest in den Morgenmantel gewickelt, ging sie barfuß in die Küche. Seit Beatrice verschwunden war, hatte sie kaum etwas gegessen, geschweige denn eine richtige Mahlzeit zusich genommen. Mal ein Keks, mal ein Apfel, mal eine Ecke Käse. Jetzt füllte sie eine Schale mit Cornflakes, streute einen knappen Löffel Zucker darüber, goss Milch dazu, schnitt schließlich eine kleine Banane in Scheiben und verteilte sie darauf.
Sie hatte sich gerade an den Tresen gesetzt, als Anita Chandra leise eintrat.
»Ich meinte, jemanden gehört zu haben.«
»Ich konnte nicht schlafen. Ich dachte, ich hätte geschlafen, aber als ich auf die Uhr sah, waren es nur zwei Stunden gewesen. Dann hatte ich Hunger.« Sie nickte in Richtung der Schale mit den Cornflakes. »Nehmen Sie doch auch etwas.«
»Nein, danke.«
»So etwas hat meine Tochter am liebsten vor dem Schlafengehen genascht.«
»Beatrice?«
»Heather.«
»Nachdem wir sie ins Bett geschickt hatten, schlich sie sich manchmal wieder nach unten, und man hörte Geräusche aus der Küche. Als hätten wir Mäuse, sagte Simon immer, die an den Frühstücksflocken nagen. Ich glaube, er fand es niedlich, dass sie auf Zehenspitzen nach unten kam.« Sie lächelte traurig. »Ich dagegen habe mir Gedanken gemacht, weil sie wieder ins Bett ging, nachdem sie etwas Süßes gegessen hatte.«
»Simon – das ist Heathers Vater?«
»Ja. Ich dachte, er würde sich vielleicht melden, als er gehört hat, was passiert ist. Simon. Ich meine, er muss es doch erfahren haben, oder nicht? Er wird doch die Zeitungen lesen und die Nachrichten sehen.« Sie nahm ein Stückchen Banane auf ihren Löffel. »Das letzte Mal, als ich ihn getroffen habe, sah er nicht besonders gut aus. Vielleicht ist das der Grund. Oder er möchte nicht aufdringlich sein.«
Die Küchenuhr tickte.
»Wie lange ist es her, dass Sie ihn gesehen haben?«
»Es war im Sommer. Wir haben ihn zufällig getroffen, Beatrice und ich. In
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