Schrei Aus Der Ferne
Cambridge.«
»Dort lebt er?«
»Ich weiß es nicht genau. Er hat es nicht gesagt. Nur dass er umgezogen ist – fort aus London – und dass er irgendwo in der Nähe wohnt. In unserer Nähe.«
»Hier in Ely? So nahe?«
»Das weiß ich nicht. Ich glaube es aber nicht.« Der Ausdruck auf ihrem Gesicht verriet Anita, dass sie an etwas anderes dachte. »Die Fotos«, sagte Ruth. »Die Fotos von Beatrice, die auf unseren Computer geschickt wurden. Wissen Sie darüber Bescheid?«
»Ja.«
»Als sie ankamen, dachte ich – ich habe mit Andrew nie darüber gesprochen, er war sich nämlich so sicher, dass sie von Lyle wären –, aber ich dachte damals – ich weiß auch nicht warum –, dass Simon vielleicht dahintersteckte.«
56
Blassgrau hing der Nebel über den Feldern und verstärkte sich zu einem bläulichen Violett an den äußersten Rändern. Will, der ein leuchtendes Oberteil und Laufschuhe mit reflektierenden Streifen an der Ferse trug, lief leichthin und ließ auch seinen Gedanken freien Lauf, ließ sie sich ordnen und neu ordnen. Beatrice, die böse über die Verspätung ihres Vaters in gereizter Stimmung losmarschiert: eine ausgestreckte Hand, ein wartender Wagen; Lyle Henderson, der sich mit den Bildern junger Mädchen in seinem Zimmer einschließt; das lüsterne Grinsen auf Mitchell Roberts’ Gesicht –
Haben Sie Kinder? Ich würde sie gern mal kennenlernen
.
Wieder zu Hause, warf er seine Laufkleidung in den Wäschekorb und ging unter die Dusche. Er konnte hören, dass Lorraine die Kinder bereits zur allmorgendlichen Routine anhielt und sich zwischendurch selbst fertig machte, nichts Übertriebenes: ein bisschen Wimperntusche und Haare bürsten.
Als er in einem dunkelblauen Hemd, einer grauen Hose und einem locker um den Hals geschlungenen blauweißen Schlips nach unten kam, war der Kaffee bereits fertig und Lorraine schob Brot in den Toaster.
»Du bist ein Wunder, das bist du«, sagte er und küsste sie auf den Kopf.
»So sagt man.«
Will küsste sie noch einmal, diesmal fast auf den Mund, und Jake schnaubte laut und verächtlich hinter seinen Rice Krispies.
»Wie war das Laufen?«, fragte Lorraine.
»Ganz gut. Langsam.«
»Du wirst alt.«
»Ich wollte nur nicht in einem Graben landen.«
Er schenkte ihnen beiden Kaffee ein und setzte sich.
»Ich vermute, es gibt keine Fortschritte? Bei dem Mädchen?« Sie warf den Kindern einen wachsamen Blick zu, da sie Wills Fälle in ihrer Hörweite nicht allzu eingehend diskutieren wollte.
»So gut wie keinen.«
»Und dieser Mann, den du vernommen hast?«
Will schüttelte den Kopf. Als sie Lyle Hendersons Alibi für die Zeit von Beatrice Lawsons Verschwinden überprüft hatten – angeblich hatte er ja bis halb oder Viertel vor acht im Golfclub Karten gespielt –, konnte keiner seiner dortigen Freunde diese Angaben bestätigen, denn niemand hatte ihn nach halb sechs im Clubhaus gesehen.
Wills Hoffnungen waren aufgeflackert.
Henderson war wieder aufs Revier geschleppt und sein Anwalt benachrichtigt worden. Mit den Zeugenaussagen konfrontiert, hatte er betreten die Wahrheit zugegeben: Nachdem er den Golfclub verlassen hatte, war er zu einem Bordell am Stadtrand von Cambridge gefahren und hatte käuflichen Sex genossen. Die Wirtin, die das Unternehmen mit der Effizienz und der Sauberkeit eines Krankenhauses führte, erkannte ihren Kunden sofort.
Als Beatrice Lawson aller Wahrscheinlichkeit nach in einen grünen Vauxhall Corsa gestiegen war, hatte Lyle Henderson die Dienste einer siebenundzwanzigjährigen Teilzeit-Friseuse in einem Trägerrock und flaschengrünen Schlüpfern in Anspruch genommen.
»Es ist doch sicher nicht notwendig, dass meine Frau davon erfährt?«, fragte Henderson. »Ich meine die Einzelheiten.«
»Ich bin sicher, auf die kommt sie von alleine«, sagte Will.
Er war oben im Badezimmer und putzte sich die Zähne, nachdem er gefrühstückt hatte, als das Telefon läutete. Lorraine ging ran.
»Für dich«, rief sie nach oben. »Anita Chandra?«
Als Will etwa zehn Minuten später das Haus verließ, flog eine Schar Amseln auf und durchschnitt schwarz gefiedert den Morgenhimmel.
Ely war nicht weit entfernt, und als er beim Haus der Lawsons ankam, waren die Medien in all ihrer Herrlichkeit versammelt. Auf dem Weg hatte er beim Zeitungsladen haltgemacht. Auf Seite eins war das Foto der vermissten Beatrice Lawson abgebildet und auf Seite drei sah einem Mitchell Roberts unter der
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